Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
sich herüberwinkte – zweifellos Frau Richter.
Ohne das geringste Zögern war ich sofort ausgestiegen und zu der Frau hinübergegangen. Wir hatten einander erkannt und umarmten uns mehrere Male lang und selbstverständlich wie Verwandte, wie engste Familienangehörige, wie Großmutter und Enkel, oder gar Mutter und Sohn. Zu meinem Erstaunen hatte ich eine Verbindung, ein spontan auszudrückendes Gefühl zu ihr gespürt und diesem Impuls in einem schwer erklärbaren Moment nachgegeben – in einer Situation, die für sie vermutlich ein bewußteres Wiedersehen war, das Erinnerungen aufkommen ließ, nicht nur solche an einen Säugling. Denn als Frau Richter mit beschwörend hochgestreckten Händen laut in den menschenleeren Hof hinein sagte: ganz der Vater, und auf meinen skeptischen Blick hin die Feststellung nochmals wiederholte: ja, ganz der Vater, haute mich ihre banale, nur im engeren Freundes- und Familienkreis zu gebrauchende Redewendung beinahe um – eine nach meinem Empfinden von jeher zwiespältige, von vielen Söhnen durchaus ungern gehörte Aussage, weil die Freude, etwas Verwandtes zu entdecken, vom Verdacht überdeckt wird, am Ende doch kein einmaliges Wesen zu sein. Überdies war dieser Spruch bisher so gut wie noch nie auf mich gemünzt worden – schon gar nicht als Erwachsener, einem seit Jahrzehnten vater-, mutter- und geschwisterlosen Einzelwesen, dem das Familiäre lebenslang ziemlich fremd und oft befremdend vorkam.
Frau Richter bat uns – weil wir nun schon mal da wären – ins Innere des Hofes, auch die hintere Scheune war zu einem Wohnhaus umgebaut.
Für meine Tochter, Ihre damalige Windelschwester, sagte sie in mein verständnislos verzogenes Gesicht – ach, den Ausdruck kennen Sie nicht?
Nie gehört.
Windelgeschwister oder Windelfreunde nannte man früher gleichaltrige Babys, die nicht verwandt sind, aber aus nachbarschaftlichen oder anderen Gründen unterm selben Dach aufgezogen und auf demselben Tisch gewickelt werden.
Unter dem Begriff ließen sich heute ganz andere Bedeutungen vorstellen …
Das Anwesen bestand aus vier Gebäuden, zwei großen Wohnhäusern und zwei flacheren, querstehenden fürs Wirtschaften; den quadratischen Hof schmückten Gips-Figuren antiker Helden und ornamentale Kunststoff-Elemente aus dem Baumarkt. Frau Richter konnte sich mit aller, wie mir schien, geistigen Frische an Details meiner frühen Familiengeschichte erinnern, von denen ich bis zu diesem Moment nichts wußte. Sie erinnerte sich sogar an den ersten Satz, den mein Vater beim Betreten des Hofs an einem der letzten Tage im September 1944 zu ihr, der Zwanzigjährigen, gesagt hatte – am späten Nachmittag, einem Freitagnachmittag, und das genau hier im von ihr ausführlich erklärten Quergebäude linker Hand, heute offenbar eine Garage, einst jedoch das Backhaus des Bauernhofs. Am Morgen jenes Septembertages war der Gemeindediener des Dorfes erschienen, um die Ankunft einer weiteren Flüchtlingsfamilie zu melden, die seiner Meinung nach nirgendwo anders mehr unterzubringen sei außer bei den Richters. Dabei seien Wohnhaus und Scheune zu dem Zeitpunkt schon von mehreren, meist männerlosen Familien aus den Ostgebieten belegt gewesen, zusammen an die zwanzig Personen, wie sie erzählte – ihre Mutter sei jedoch eine Frau gewesen, die auf Bitten hin niemals hätte ›nein‹ sagen können. Wie an jedem Freitagnachmittag buken die Bäuerinnen gerade den Sonntagskuchen, als mein Vater mit Gattin und zwei Töchtern im Schlepptau den Hof betrat und die ihm fremden, thüringischen Frauen mit eben diesem ersten Satz ansprach: »Das riecht aber gut, frischer Kuchen, wie schön – Sie backen bestimmt zu Ehren unserer Ankunft«.
Raffiniert der Alte, dachte ich, hier mit einer ironisch die Stimmung auflockernden, angesichts der Umstände gleichwohl riskanten Bemerkung einzusteigen – ein Mann von Mitte Vierzig, schmalschultrig, schwarzgelockt und gutgelaunt nach knapp zweitausend Kilometern im Lkw, ein Flüchtling auf der Flucht nach vorn.
In dem Moment fühlte ich mich tatsächlich verwandt mit meinem Vater, die kurz aufblitzende und eher durch alte Fotos inspirierte Erinnerung seiner Gestalt rührte mich. Doch das Gefühl von Zusammengehörigkeit verflüchtigte sich gleich wieder – ein Anhauch nur von längst Verloschenem, unhaltbar und ohne jegliche Realität, sinnlos. Frau Richters Erzählungen mußten genügen. Dabei war schon die geschilderte, offenbar solidarische Bereitschaft bei
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