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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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der Aufnahme von Flüchtlingen kaum nachzuvollziehen – es sei denn mit Hilfe der zahllosen, im Gedächtnis bewahrten und fast wöchentlich aufgefrischten Bilder aus schwarzweißen Dokumentarfilmreihen der Marke »History« im Fernsehen. Denen meist jedoch der Ton, das von flüchtenden oder sie beherbergenden Menschen Gesagte fehlte. Die Idee, das Volk zu interviewen, gab es noch nicht. Hätte mein Alter vor der Filmkamera eines Kriegsberichterstatters die gleiche Heiterkeit verbreitet wie in der Richterschen Backstube? Oder fürs Führerfernsehen ein paar Flüchtlingswitze gerissen? Ganz der Vater, sagte eine Frau, die ihn gekannt hatte, und meinte mich – während mir nur sein Äußeres vorstellbar blieb, der Klang der Stimme schon nicht mehr. Erinnerungen an ihn drängten sich wirklich nicht auf – der Mann war seit 45 Jahren tot. Und fast genauso lange hatte niemand mit mir über ihn geredet noch hatte ich anderen Näheres von ihm erzählt. Das hatte sein gelebtes Leben in eine noch fernere Vergangenheit versenkt – und den Toten in die Unendlichkeit.
     
    Durch Frau Richter änderte sich das jetzt. Sie hatte die Situationen mit meinem Vater so genau vor Augen, als hätte sie im danach vergangenen halben Jahrhundert nur mehr wenig Wichtiges erlebt. Da könnten mir noch einige Erzählungen bevorstehen – auf meinen Wunsch hin würden wir beide uns morgen den ganzen Nachmittag lang ohne Freundin und Windelfreundin unterhalten.
     
    Dort oben, sagte sie und zeigte hoch zum ersten Stock, dort stand Ihre Wiege, in diesem Eckzimmer wohnten Sie mit Ihrer Mutter.
     
    Mit meiner Mutter zusammenwohnen … mit meiner Mutter allein in einem Eckzimmer wohnen – eine befremdliche, ja sogar unheimliche Vorstellung, die das flaue Gefühl in meinen Knochen für Momente verstärkte.
     
    Mit unser schönstes, hellstes Zimmer, sagte Frau Richter, die beiden Schwestern schliefen in der Scheune, Ihr Vater arbeitete auswärts und kam an jedem Wochenende her.
     
    Und ging’s mir gut da oben, fragte ich, oder war ich eher eine Art Problembaby, so ein nerviger Schreihals?
    Eigentlich gut, sagte sie und wußte, daß wir beide verschiedene Teile der Geschichte kannten, die zu ergänzen wären, ohne daß sich dabei am uns jeweils bekannten Ende etwas ändern würde. Das Wenige, was ich über die unmittelbar ersten Wochen und Monate meines Lebens erzählt bekommen hatte, wurde durch die knappen Bemerkungen von Frau Richter bereits nach einigen Minuten korrigiert. Wenn ich jedoch vorsichtig versuchte, bei ihren heiter erzählten, mehr oder weniger freudigen Erinnerungen an meine Familie in Richtung Ende der Geschichte nachzuhaken, zog sie sich aus mir noch unklaren Gründen auf wiederkehrende formelhafte Sätze zurück: Alles war gut, bis der Streit Ihrer Eltern begann, alles war gut, bis das Desaster seinen Lauf nahm, das Unglück. Und mehr als nur beteiligt daran ist eine Wahrsagerin gewesen, eine rothaarige Flüchtlingsfrau, die in das Gefühlsleben so einiger Frauen im Dorf durch tägliches Kartenlegen eingegriffen, es gesteuert hat … die beste Freundin Ihrer Mutter … diese Frau sagte Geschehnisse, Missetaten und Liebeskummer bereitenden Betrug voraus … das Übliche eben … die Prophezeiung von Ereignissen, die in Wahrheit überhaupt nicht passierten, oder Vorfällen, bei denen bestenfalls unwesentliche Einzelheiten mit der tatsächlichen Geschichte übereinstimmten und die dennoch zu den verhängnisvollen Reaktionen Ihrer Mutter führten …
     
    Meine Mutter, eine Idiotin also, die zur Wahrsagerin rennt, dachte ich, der sich an diese Frau bestenfalls mit Hilfe einiger schwarzweißer Fotos erinnern konnte.
     
    Später in dem kleinen Dorfhotel, in dem die Richters uns telefonisch angemeldet hatten, war Ellas Protest gegen meine Einschätzung heftig geworden: Du weißt doch gar nichts, wie kannst du deine Mutter verurteilen, schließlich könnte niemand sagen, was damals wirklich los war.
     
    Aber ich weiß, was Trockenmilch ist, wie sie aussieht, wie sie schmeckt, erklärte ich, amerikanische Trockenmilch, ein mit Wasser aufzulösendes Pulver, mit dem ich gefüttert und aufgezogen wurde … weil meine Mutter mich sitzenließ –
    … das ist garantiert der falsche Ausdruck …
    … beziehungsweise liegenließ, beziehungsweise dürsten ließ, die Mutterbrust verweigerte, so daß irgend etwas Ähnliches herhalten mußte, ein Ersatz, der höchstwahrscheinlich kaum wie Muttermilch schmeckte, ein mir ohnehin nicht möglicher

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