Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
hatte. Er plante eine Chronik seines Dorfes mit der Erwähnung und Würdigung eines jeden dort Gebürtigen. Vor Monaten hatte er eines morgens angerufen, wobei ich ihn abzuwimmeln versuchte – der Ort sei mir vollkommen unbekannt, der Bauernhof, auf dem meine Geburt stattfand, ebenfalls, bereits nach wenigen Monaten sei ich als Säugling von dort abgereist. Am Abend desselben Tages rief er erneut an: Mein damaliges Quartier sei jetzt bekannt, die damalige Gastgeberin, Frau Richter, heute über achtzig, erinnere sich an mich und besitze Fotos und Briefe unserer Familie.
Dann das Staunen, als wir in das weit hingestreckte, real existierende Erfurt hineinfuhren – kein Ort mehr, der sich hinter einem Eisernen Vorhang versteckte. Das Panorama aus Industriebauten, neuen Siedlungen und schönen Altbauecken, der Bilder-Mix, der bei ersten Orientierungsblicken rechts und links der Autobahn auf einen zukommt, sah so aus, als hätte die Stadt schon immer im Westen gelegen. Nur die Ausschilderung schien mangelhaft. Auf der Stadtautobahn umrundeten wir mehrmals den Großraum Erfurt, um einmal vor einem neuen Flughafen zu landen, ein anderes Mal in der Vorstadt, dann in einem Waldgebiet. Erst bei der vierten Durchfahrt der gleichen Unterführung entdeckten wir den winzigen Hinweis mit Pfeil: »Möbisburg« – längst in unseren obligaten Streit über Fahrverhalten und Schuldzuweisungen verstrickt. Anderthalb Stunden lang hatten wir meinen Geburtsort umkreist, ehe wir schließlich die ländliche Ausfallstraße fanden.
Ella war wenig empfänglich für Beifahrerkommentare, so daß wir nach Abklingen ihres Rechtfertigungsgeschreis einige Kilometer lang schweigend durch die Wald- und Wiesenlandschaft fuhren. Wieder kamen mir Zweifel an der Entscheidung, diese Reise mit ihr gemeinsam unternommen zu haben. Ob unsere Nähe für so einen Psycho-Trip ausreichte? Würde Ella mit den erwartbaren Erzählungen über mein Babydasein umgehen können? Dazu fiel mir eine länger zurückliegende Merkwürdigkeit ein: In Hamburg lebend, hatte ich einer Geliebten den niedersächsischen Ort meiner Kindheit, das Dorf Lichtenberg, gezeigt und mich wenige Wochen danach von ihr getrennt. Jahre später zeigte ich dieses Lichtenberg wieder einer Freundin und trennte mich wenige Wochen später auch von dieser – nach fast vierjährigem Zusammensein. Und jetzt? Läge im Besuch meines Geburtsorts nicht ein ähnlich hohes Risiko? Oder fände die Serie ein Ende? Den beiden, mich seinerzeit grosso modo zufriedenstellenden Ex-Geliebten hatte ich nur von den schönen Seiten der Kindheit erzählt und nicht, niemals, von den tatsächlichen familiären Bedingungen. Weil die Wahrheit, so wie sie war und sich zeigte, zu keiner Zeit mit meinen Gefühlen übereinstimmte. Ich gehörte einfach nicht in dieses Dorf Lichtenberg, genausowenig wie ich nach Möbisburg gehört hätte, ich gehörte in keinen dieser Fluchtorte, das war’s. Die beiden Dörfer hingegen waren sich verdammt ähnlich, wie ich bei der Ankunft sah und spürte, das Kopfsteinpflaster, die Stützmauern, die Fachwerkhäuser, der Anger mit Brunnen, 17 ., 18 . Jahrhundert, alles im norddeutschen Flachlandstil.
Wir parkten in der Einfahrt eines großen, teilweise zerfallenen Stallgebäudes und schauten minutenlang schweigend auf die Vorderfront eines gegenüberliegenden, zum modernisierten Wohnhaus umgebauten älteren Bauernhofs.
Möbisburg, Ingerslebener Straße 10 , die erste Wohnung eines unmittelbar nach Kriegsende geborenen Flüchtlingskindes, die erste Melde-Adresse meines Lebens.
Was sollte ich mit diesem Anblick anfangen? Dankbar sein, daß mein Vater mir den längeren Aufenthalt in einem thüringischen Dorf von nur begrenzter ländlicher Schönheit erspart hatte? Und uns beiden statt dessen einen sehr viel längeren Aufenthalt in einem zweihundert Kilometer weiter westlich liegenden, niedersächsischen Dorf von ebenfalls nur begrenzter ländlicher Schönheit ermöglichte? Oder sollte ich mich nachträglich freuen, daß mir aufgrund seines weitsichtig arrangierten Umzugs die unlustigen sozialistischen Irrungen erspart geblieben waren, die lustvollen kapitalistischen Wirrungen dagegen nicht?
Telefonisch erst für den nächsten Tag angemeldet, standen wir noch immer in der Einfahrt des Stallgebäudes, als sich in der Ingerslebener Straße Nummer zehn eine im mannshohen Holztor eingelassene Pforte öffnete, eine ältere Frau im gemusterten Hauskittel heraustrat und uns zu
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