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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und Wahrheit. Und hinter dieser Wand hielt sich zweifelsfrei ein weiterer Mann auf … ein Sechzigjähriger … der den Abend im bläulichen Licht des weltweiten Netzes verbrachte, wo er langsam, aber sicher ermüdete. Ein alternder, alleinlebender Mann, der eventuell vorm zu Bettgehen noch ein gebrauchtes T-Shirt aus dem Wäschekorb zupfte und es mit unter die Decke nahm … als Alleinschlafender, der sich, so lange wie nötig, an zwei, drei von ihm früher geliebte Frauen erinnerte, ehe seine Imaginationen im Dunkel der Nacht verschwanden und ihn am nächsten Morgen die eigene Erektion verhöhnte. In dieser dauerhaften Einsamkeit könnte er alsbald die hausmeisterhaften Gefühle fürs Allgemeine entdecken – kürzlich sprengte er erstmals Straßenbäume vor unserer Tür, wie gewohnt in seiner graugrünen Lederjacke, auf deren Rückseite ein aufgedruckter, nur noch in Wasserzeichenstärke erkennbarer Adler mit ausgebreiteten Flügeln abhob.
     
    Aber warum diese Beachtung für einen Nachbarn? Weil er sich einmal dem Wahn der Liebe hingegeben und das spätere Elend ertragen hatte, als wär’s nicht mehr als eine Liedzeile im Blues? Oder wegen der physischen Nähe, in der wir einiges voneinander mitbekamen und nichts teilten?
     
    The green leaves …
     
    All diese Lieder, die er im Nebenzimmer hörte, waren mir vertraut, seit es sie gab – sie gehörten zu meiner Vergangenheit.
     
    … The green leaves of summer …
     
    … die grünen Blätter, die zartgrünen der Buchen im April, die schwarzgrünen des Efeus, des Immergrüns, des Evergreen …
    Merkwürdigerweise setzte die von außen erzwungene Erinnerung mit einer Abwehr dieser Erinnerung ein, mit einem dumpfen, fast ärgerlichen Moment voller Zweifel an ihrer Notwendigkeit, an ihrem Nutzen nach der ein halbes Jahrhundert langen Einlagerung. Der antiquierte Gesang hinter der Wand, vertraut und aufdringlich zugleich, zeigte gewollt oder ungewollt Wirkung, Gedanken kamen in Gang, Kindheitsbilder schienen kurz auf, ein paar Ecken der alten Hälfte des Dorfes, der erste Wald, der Fußballplatz, die Kirche in den Tannen … Gefolgt von kantigeren Ecken der anderen Hälfte des Dorfes, die eine Neubausiedlung war im zweiten Wald, umgeben von einem nächsten, weitläufigen Wald, gnädige Dekoration für den problematisch geteilten Ort mit alteingesessenen Bauern und Flüchtlingen … und uns, ihren Kindern, dem Horst, dem Pitze, dem Rudi, dem Ulli, die mit Nachnamen Thomalla, Schikowski oder auch Meyer hießen. Eine Gemeinschaft, die vom Anfang bis zu ihrem Ende die meiste Zeit in den Wäldern verbrachte, die Sommer indianisch, die Winter auf Skiern, immer nah der Erde, close to the earth …
     
    … The green leaves …
     
    … der Ahornbaum vorm Fenster des Kinderzimmers, mein Ahorn, dessen windbewegte Blätter mich abends in den Schlaf rascheln oder verängstigen konnten … während an seinem Fuß unten im Hof mein eigenes, im Dreck angelegtes Dorf mit seinen Straßen und Matschbauten auf den nächsten Morgen wartete, auf das Erwachen des Verkehrs mit den kleinen, von mir handgeführten Autos, den Wikingermodellen. It was so good to be young then, sang der Chor hinter der Wand … oh yes. Gut und niemals langweilig, ein Waldstück hieß Paradies, ein Bergrücken Hölle, aus dem Nichts heraus konnten hier Überfälle passieren, die Brüder der Schröder-Bande beherrschten das Territorium zwischen den Siedlungshöfen und Spielplätzen, bestimmten die Regeln für uns Fünf-, Sechs-, Siebenjährige … Sie brachten die anderen dazu, Maikäfer in Feuersbrünste zu scheuchen und Frösche mit in den Hintern gesteckten Strohhalmen zu schleimiggrünen Ballons aufzublasen – nicht aus naturwissenschaftlichem Interesse, sondern als Zirkusprogramm nach Beutezügen. Diese vier, fünf Brüder beklauten, erpreßten, unterdrückten uns mit offener und latenter Gewalt … Widerstand zwecklos, aber nötig. Im Kampf schnitt der älteste Schröder-Junge mit einem Hieb seiner rostigen Blechsense die rechte Wange aus meinem Kindergesicht – klappte einfach runter, der blutige Fleischlappen, aufgetrennt vom Auge bis zum Kinn, die Beteiligten staunten, fünf war ich und schwerverwundet im ersten Befreiungskrieg, au Backe. Die Bäuerin, bei der Vater und ich wohnten, pflegte mich, Labadowski hieß sie, selbst Flüchtlingsfrau in diesem fremden niedersächsischen Dorf, das eine frühe Schule wurde, ein erstes Theater der Grausamkeit, der Aggressionen, Tricks und Lügen … Nur im

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