Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
früh, mitunter eine Stunde vor der Zeit, um dann zu behaupten, wir wären jetzt und nicht eine Stunde später verabredet, sie wisse das ganz genau, so sei es vereinbart worden.
Reines Wunschdenken, erklärte ich ihr, in dem Moment, in dem wir uns am Telefon verabredeten, hätte sie sich in Gedanken auf sieben Uhr konzentriert – ausgesprochen aber wurde acht Uhr, und das von uns beiden.
Nein, sieben Uhr war abgemacht, erwiderte sie, um sieben sollte ich kommen.
Ich wußte ja, daß es keinen Grund für überraschende, stichprobenartige Kontrollakte gab, sie offenbar nicht.
Um acht warst du angemeldet.
Um sieben – bekanntlich altern die Ohren als erstes, und Zuhören war bisher sowieso nicht deine Stärke.
Selbst der beste Zuhörer kann sich mal verhören, sagte ich halbwegs ironisch, obwohl es mich durchaus beunruhigte, im Streit um die verabredete Uhrzeit ohne jeden Zweifel recht zu haben.
Bereits ein ganzes Jahr mit dieser Frau – und nach wie vor war bei jedem Zusammensein mit einem völlig überraschenden Stimmungsumschwung zu rechnen, mit einer unter Umständen radikalen Volte, die von der leichtesten Leichtigkeit eines Augenblicks unwillkürlich in das größtanzunehmende Mißbehagen im nächsten führte. Wenn auch ungern, erinnerte ich mich an die Situation, in der mir eine psychische Besonderheit Ellas zum ersten Mal bewußt geworden war – ungefähr zwei Monate nach dem Kennenlernen, gewöhnlich der früheste Zeitpunkt, zu dem anfänglich undeutliche Einschätzungen einer neuen Freundin deutlicheren zu weichen begannen. Eines schönen Spätsommernachmittags saßen wir zusammen mit dem jungen Paul in einer der Strandbars am Rand der halbtoten Spree, als etwas passierte, das mich fassungslos machte und in mir für Augenblicke die Ahnung eines kommenden Unglücks aufscheinen ließ. Dabei konnte die Situation gar nicht entspannter sein – so lange jedenfalls, bis sich einige Meter entfernt eine Frau aus ihrem Liegestuhl hochrappelte, die Kollegin Dorothea aus dem Kommentatorenpool. Vermutlich winkte ich ihr so einladend zu, daß sie sich kurz darauf an meine Seite des Tisches setzte, Ella und Paul saßen uns gegenüber.
Was in den folgenden zwanzig bis dreißig Minuten geschah, blieb auch nach Wochen wiederholt aufgenommener Diskussion ungeklärt.
In meiner Version unterhielt ich mich flott und intelligent mit Dorothea, einer allgemein geschätzten, in ihren Kommentaren traumwandlerisch sicher argumentierenden Autorin. Sie hatte ihren Stuhl etwas abseits vom Tisch hingestellt und mit meiner Begleitung nur Begrüßungsworte gewechselt, wonach das Gespräch zwischen uns beiden allein weiterlief. Wir sprachen über mögliche und eher unmögliche Themen fürs Radio, klatschten über die verantwortlichen Redakteure, lachten öfter, versteht sich. Ellas Version des Geschehens schien spannender zu sein und konnte von mir erst nach und nach zusammengepuzzelt werden. Natürlich hatte ich zwischendurch zu ihr rübergeschaut, sie wegen eventuell aufkommenden Ungemachs auch vorbeugend angelächelt – sie kuckte zurück wie auf einen in ihren Blick geratenen Fremden, den sie zu nichts ermuntern wollte. Eine Weile blätterte sie mit demonstrativem Interesse in einem Kinoprogrammheft, während sich ihre innere Anspannung in einer adrenalingespeisten Steigerungsdramaturgie vermutlich mehr und mehr verdichtete. Dabei schwieg sie ausdauernd, auch gegenüber Paul – ja, sie brachte diesen Dauerredner sogar zum Verstummen, weil sie sich unter und über dem Tisch näher an ihn heranschob und dem Anschein nach auf eine ihn mehr als nur absichtslos berührende Tuchfühlung ging. Ihr Heranrücken und das im Ansatz erkennbare Vorhaben, sich im nächsten Moment wie bei einem Geliebten oder Vertrauten anzulehnen, verunsicherten ihn. Seinem ernsten Gesicht war anzusehen, daß er noch rätselte, was oder wie ihm gerade geschah, welches Ziel Ella verfolgte und welche Zumutung oder Provokation das Bild bereits jetzt enthielt, das sie beide abgaben – minutenlang verharrte er in Duldung und wagte es nicht, seine Sitzposition zu verändern. Die mittlerweile offenkundige Bedrückung zwischen uns dreien am Tisch löste sich auch dann nicht auf, als Dorothea sich verabschiedete. Bald danach wechselte Paul, wahrscheinlich erleichtert, zu anderen entdeckten Bekannten in der Strandbar, Ella und ich brachen auf. Auf dem langen Weg zum Parkplatz schwieg sie weiterhin. Das darf nicht wahr sein, dachte ich – da war ja
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