Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
etwas Fürchterliches passiert.
Was ist los, hatte ich schließlich gefragt.
Keine Antwort zunächst – statt dessen traf mich von ihrer Seite zwei-, dreimal einer dieser die Welt nicht ganz verstehenden Huhnblicke.
Was ist hier los?
Das weißt du ganz genau, sagte Ella.
Wie ganz genau, was?
Du weißt es.
Es konnte nur mit der Anwesenheit Dorotheas zusammenhängen. Zunächst war mir der Gedanke nicht gekommen, in dieser Situation etwas anderes als eine alltägliche Begegnung zu sehen. Ein zufälliges Treffen mit einer, einfach gesagt, guten Kollegin – einer extrem hageren Mittvierzigerin, Brillenträgerin, Schnellsprecherin, ja gut, die Intelligenz gefiel mir an ihr …
Allein dieser hauchdünne Rock, hatte Ella dann gesagt, ein Fähnchen zwischen den Beinen …
Na ja, Dorothea ist eher der Jeanstyp …
Unmöglich, so kurz, anderthalb Handbreit überm Knie.
Den kannte ich schon, sagte ich, sie hat mich ja vor ein paar Wochen in diesem Rock besucht …
… was! Zu Hause besucht – da fällt mir gar nichts mehr ein.
Wir ham was besprochen, wir verstehen uns gut, eine Lieblingskollegin, danach gingen wir mit ihrem Freund essen.
Was für eine Verstimmung, dachte ich – Ella war Akademikerin, Geschäftsführerin in einem Luxusmöbelladen, zog mit Erfolg ein Kind groß, fuhr ihre alte Karre wie eine Ralleypilotin und dann so was.
Eine Frechheit, wie du deinen Fuß unter ihren Stuhl gestellt hast.
Welchen Fuß?
Den Fuß, den du unter ihrem Hintern lang und tief in den Sand gebohrt hast.
Ach, der Fuß … der mit dem kaputten Sprunggelenk, sagte ich ihr – der kränkelnde Fuß, wie du weißt, der muß hin und wieder ausgestreckt werden …
Um bei diesem Grad an Verstimmung überhaupt noch etwas sagen zu können, mußte ich zum Notvorrat an Floskeln greifen – die Frau wär doch nun gar nicht mein Typ, eine rein berufliche Bekannte, die in den entscheidenden Hirnzentren keine Reaktion auslösen würde bei mir, einem einfachen Mann, der immer schon am liebsten und aus Überzeugung monogam gelebt hätte … und den ohnehin seit zwei Jahren die solo durchgezogene, nach wie vor beunruhigende Virus-Therapie mehr als alles andere beschäftigte …
… oh ja, das ist mir klar, war sie dazwischengefahren, du hast immer schön monogam gelebt, mit einer Frau nach der anderen.
In ihren Augen hatte sich in der Strandbar ein hocherotischer Flirt bei gegenseitig größter Anziehung und anzunehmender Vorgeschichte abgespielt. Eine Idee, die sich nicht mehr wegargumentieren ließ – etwa damit, daß die Sonne geblendet hätte oder eine harmlose Geste, ein einverständiges Lächeln zwischen Dorothea und mir, fehlinterpretiert wäre. Ella beharrte auf ihrer Version. Sie entspräche ihrer Wahrnehmung und ihre Wahrnehmung wäre für sie die Wahrheit, genauso wahr jedenfalls wie das, was andere in derselben Situation wahrnehmen würden, basta. Auf dem Rückweg drehte sie ihren Autoradiopop sehr laut auf und warf beide Hände rhythmisch in die Luft, um daraus die von ihr nie besessene Rock-Energie zu ziehen – trotz meines vielfach geäußerten Wunsches, während unserer gemeinsamen Fahrten auf Musik zu verzichten.
Ein weiteres Problem waren die Tage zuvor für den Abend gekauften Theaterkarten, ein glücklicher Zufall, ›Wer hat Angst vor Virginia Woolf‹. Wobei Ella annahm, daß ich sie unter diesen Umständen keinesfalls ins Theater begleiten würde, was ich zu ihrer Überraschung aber doch tat. Das Schweigen blieb uns erhalten, vorher, in der Pause, nachher. Ich konnte also nicht sagen, daß es sich in Fragen der Attraktivität bei der Schauspielerin Harfouch für mich ähnlich verhielte wie mit Dorothea, obwohl sie mir bei aller intelligenten Krakeelerei im Laufe des Stückes zunehmend Hoffnungen auf ein weibliches Einlenken am späten Abend eines schrecklichen Tages machte – trügerische Hoffnungen.
Daß diese alte Flagge auf dem Schlauchboot der Erinnerung überhaupt noch weht, hatte Leiser zu der Geschichte mit Ella gesagt – die offene Eifersucht müßte doch in Zeiten von Alphamädchen und gelernten Feministinnen längst besiegt sein.
Einfach furchtbar, dieses ewige Mißtrauen – aber was kann ich dagegen schon tun?
Erklär ihr alles in ’nem schönen Brief, sagte Leiser – oder besser: schick ihr doch einfach dein polizeiliches Führungszeugnis.
Vor zehn Jahren hätte ich mich über Eifersucht noch gefreut und geglaubt, sie hielte die Welt zusammen
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