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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Jahr der einander zugewendeten Handlungsweisen, die auch unvereinbare Signale enthielten – eine paradoxe Struktur, der Dauerzustand: kritisch. Nah dran am klassenübergreifenden Klassiker, kalauerte wer im Fler, Mann säuft, weil Frau schimpft, und Frau schimpft, weil Mann säuft. Ella schien tatsächlich eine Mindestmenge an Querelen zu benötigen. Im Streit hielt sie mir öfter vor, bei unserem Kennenlernen als sechzigjähriger Mann vielsagenderweise ohne Frau gewesen zu sein … und mittlerweile sei es ihr klar: Du brauchst auch keine – was du brauchst, ist Fickmaterial. Was konnte ein sexuell soeben Wiederbelebter auf solche Sottisen schon erwidern, wie reagieren auf diese Anwürfe einer kampfstarken Lysistrata – ihr Bauch und ihre Vagina gehörten schließlich ihr. Mißtöne wie diese häuften sich in jüngster Zeit – das Ironische, die von mir bevorzugte Ausdrucksart, war nicht Ellas tägliche Umgangssprache. Dagegen schockierte sie mich immer öfter mit ihrem unvermittelt ausbrechenden Zorn, der sie zu drastischen Aussprüchen verleitete. Schlug ich samstags ein mir nach meinem Sportnachmittag gut passendes, gemeinsames Spät-Abendessen vor, schlug sie bei bitterer Laune sofort zurück – jeden Samstag die gleiche diktatorische Festlegung, Kicken und Ficken, das ist dein Programm …
     
    Darin läge eine gewisse Verläßlichkeit, hatte ich ihr erklärt, eine sichre Sache, um die sie manch andere Frau womöglich beneiden würde.
    Du bist ein alter Macho, sagte sie.
    Nur wenn es nicht anders geht, sagte ich.
     
    Dann wieder ihre Geste, mit der flachen Hand ihren Venushügel zu tätscheln und mit fröhlich verzogener Miene zu sagen: Wir haben Glück, hier ist’s passiert, ein Wunder.
    Anfangs vermutete ich, sie würde das Obszöne ausspielen, um einen reizvollen Gegensatz zu ihrem sich meist ladylike zeigenden Auftreten herzustellen – nur eine meiner vielen Fehleinschätzungen. Dieses Wesen war tatsächlich einfach kompliziert. Was Ella anläßlich ihres, sich in meinen Augen auch bei Kleinigkeiten zu schnell aufbauenden Frustes wirklich ausdrücken wollte, erschloß sich nicht auf Anhieb – in den Momenten des Ärgers verlor sie komplett die Kontrolle, was zwangsläufig zu derben Reaktionen und wirren Äußerungen führen mußte. Trank ich an einem heißen Sommertag zwei Glas Alsterwasser oder rauchte drei Zigaretten, zeigte sich ihre Situation, ihre Zukunft schlagartig aussichtslos … als leidende Partnerin eines offenkundig Suchtkranken, eines vergeblich oft ermahnten Patienten ohne Einsicht in seine Krankheit. Hatte sie überhaupt nicht zugehört bei meinen wundersamen Heilungsgeschichten durch neue Medikamente? Sagten ihr Kanzler Schmidt und Ernst Jünger denn gar nichts? In ihren Augen war ein Einundsechzigjähriger, der noch rauchte, so gut wie tot und würde sie in nicht allzu ferner Zeit allein und mittellos zurücklassen. Neben der täglichen Antiraucherkampagne erzeugte sie ständig neue Muster der Klage, ohne daß ihr dabei ein gewisser Witz völlig abzusprechen war. Nach einer schön durchvögelten Nacht, morgens von Ella überflüssigerweise als Liebesnacht tituliert, nach einem lustig verlängerten Vormittag im Bett, drückte sie sich beim abschließenden Spaziergang zufrieden an mich und fragte mit dem elfenhaften Augenaufschlag einer Unersättlichen: Dürfte ich denn heut abend mit noch etwas rechnen – wäre eventuell noch etwas da? Also bitte – da hatte es mit der Ironie im Double Bind mal geklappt. An schlechteren Tagen dagegen tendierte sie zu einer eruptiven, meine wunden Punkte mitunter nicht völlig verfehlenden Boshaftigkeit von ganz eigenem Humor. Einer Art schwarzem Humor, der, was ich zu begreifen begann, aus den sie vermehrt beschäftigenden, doch noch uneingestandenen Gefühlen von Aussichtslosigkeit und Unterdrückung entstand.
     
    Ein Jahr also vorbei, ein Datum, über das Ella sich ganz bestimmt heute abend noch kritisch auslassen würde – ihr Leben hat sich einfach zu weit von ihren Wunschvorstellungen entfernt. Und in mir dürfte sie inzwischen nur noch bedingt den Mann sehen, der ihre irgendwann durch wen oder was auch immer erschütterte Zuversicht wieder stärken und sie in eine möglichst komplette Existenz im unteren, doch ausreichend konsumfreudigen Mittelstand mitnehmen könnte.
     
    Sie sprach des öfteren bitterlustig von ihren Glücksgriffen, die sie in jüngster Zeit mit Männern gemacht hätte, die allein wegen der Genußmittelabhängigkeit für

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