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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und machte uns mit ihrer Unsicherheit zu sozialen Wesen, undsoweiter – in Wahrheit fesselte und entfremdete sie die Beteiligten, zwänge zumindest einem eine falsche Rücksichtnahme und damit die schleichende Entstellung seiner Persönlichkeit auf. Seit dem Vorfall in der Strandbar ließen sich meine Zweifel an Ella jedenfalls nicht mehr leichthin unterdrücken, Verstand und Gefühl gingen von da an häufiger getrennte Wege. An jenem Nachmittag war mir sogar zum ersten Mal der Begriff einer ›Irren‹ in den Sinn gekommen – als Gipfel der Verständnislosigkeit. Leiser hielt das für übertrieben und hatte mit seiner abschließenden Bemerkung wahrscheinlich nicht ganz unrecht.
     
    Du bist jetzt fast 62 Jahre alt, sagte er, dein alter Virus ist wegtherapiert, eine neue Frau da – was solltest du denn noch mehr erwarten können …
     
    Ja, was. Eine offene Frage, die sich jeden Tag aufs neue stellte.
     

W ieder in diesem Wartezimmer, wieder in nervöser Erwartung der Blutwerte, war mir ein Leitsatz aus dem Vorbereitungsseminar für sich noch sträubende Therapie-Kandidaten eingefallen. Der junge, fast jugendliche Psychiater hatte diese so irreale wie unsterbliche Redewendung gleich mehrmals gebraucht … die vom Leben, das einem ein zweites Mal geschenkt würde … aber nur dem, der diese Therapie mutig durchzöge, versteht sich. Worauf baute so ein Medizinmann eigentlich bei dieser undurchdachten, ja, unwissenschaftlichen Formulierung? Auf seinen unbedingten Überzeugungswillen? Auf die Bereitschaft Erkrankter, an eine Wunderheilung zu glauben? Oder auf Fortschritte der medizinischen Forschung wie diese neue, nochmals verbesserte Interferon-Therapie? Den ersten Studien zufolge standen meine Heilungschancen bei circa dreizehn Prozent.
     
    Wie viele Male hatte ich seither hier gesessen und auf den ausrangierten Arztschrank gestarrt, die neben dem Empfang stehende, olle Vitrine voll mit chirurgischen Bestekken, Schläuchen, Pinzetten, Scheren, Kratz-Krallen aus dem 19 . Jahrhundert und sonstigem museumsreifem medizinischem Trödel, lose auf Glasplatten gestreut wie auf dem Flohmarkt – na ja, schon eine beklemmende Dekoration für eine hepatologische Schwerpunktpraxis. Ein Ort, wo eine Menge Leute ihre verschrumpelte Leber anschleppten, wo sie womöglich den Leichtsinn früherer Zeiten verfluchten und als Gedächtnisstütze jene alten, monströsen Spritzen wiedersahen – ein nostalgischer Schrecken, diese schönen Stücke mit den dicken Glaskanülen, den gewölbten Chromfassungen, die Cadillacs unter dem Spritzbesteck … Antiquitäten, die früher mal schwer in der Hand lagen … auch in der unbefugten … happiness was a warm gun … ach shit, a Scheiß-gun … »Gift« stand gedruckt auf zwei weißen Porzellantellerchen, die an winzigen Kordeln im Schrankregal hingen, sahen schön aus … perfekte Requisiten für einen Fixer-Kostümfilm, auch das kleine, durch Schnitzereien verzierte Holzkästchen mit der Reise-Apothekerwaage – die hätte Sweti, unserem Ästheten an der Nadel, damals bestimmt gefallen …
     
    Die Liste der Nebenwirkungen von Interferon war unanständig lang – siebenundfünfzig Haupt-Nebenwirkungen, zweiundzwanzig Neben-Nebenwirkungen plus jede Menge zu erwartender Unannehmlichkeiten. Für die Dauer eines Jahres wurde in der Begleitbroschüre täglicher Kopfschmerz garantiert, Haarausfall als wahrscheinlich angezeigt, das Aufkommen von Depressionen als höchstwahrscheinlich – sogar die Möglichkeit, an Schizophrenie zu erkranken, blieb nicht unerwähnt. Dazu galt ein strafgesetzlich untermauertes, einjähriges Verbot von ungeschütztem Geschlechtsverkehr, wobei ein Hinweis die »Ehegatten und Partner« der Behandelten darauf vorbereitete, daß die sexuelle Aktivität unter Einfluß dieses Medikamentes ohnehin äußerst gering oder gar ganz ausfallen könnte. Die Liste endete mit der möglichen Nebenwirkung »spontanes Weinen«.
     
    Wenn Sie die Therapie nicht machen, haben Sie noch zwei Jahre zu leben, hatte der junge Mann im Weißkittel gesagt.
    Zwei Jahre nur … da schaff ich ja kaum die sechzig …
    Zwei Jahre noch, wenn Sie nichts unternehmen und so weiterleben wie bisher.
     
    Beinahe hätte ich an jenem Nachmittag die Fassung verloren und das Psychiaterbürschchen am Schlips über den Schreibtisch zu mir rangezogen. Verärgert über die ohne genauen Einblick in die Krankenakte aufgestellte, provozierende Prognose war ich aufgesprungen – sofort weg hier, dachte ich, raus aus

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