Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
diesem Zimmer, raus aus dem psychiatrischen Interferon-Therapie-Begleitseminar, raus aus der ganzen Geschichte. Mit so einem erpresserischen Bluff konnte mich niemand zu einer unangenehmen Behandlung überreden. Keine Lust auf die Pillenwerferei, die täglich neun Tabletten, die wöchentlichen Injektionen in die Bauchfalte, selber auszuführen, igitt, am Schreibtisch, in der Küche oder sonstwo. Ein Jahr lang durch die klinische Vorhölle gehen, um etwas mehr Lebenszeit herauszukitzeln? Ein Katastrophenjahr wegstecken in der Hoffnung auf mehr als nur zwei weitere, halbwegs erträgliche Jahre? Rechnete sich das? Was für ein Deal! Was für ein Pokerspiel mit dem Schicksal, mit dem Virus!
Aber weiterleben wie bisher kam auch nicht in Frage … Ein wochenlanges Herumgeeiere, ein inneres Probehandeln, ohnehin eine meiner Lieblingsbeschäftigungen – sollte ich oder sollte ich lieber nicht, oder sollte ich doch … Am Ende zeigte das ärztliche Menetekel Wirkung – die Behandlung begann. Und dies hier sollte der hoffentlich letzte Besuch in dieser Praxis sein …
Fünf, sechs Leute waren vor mir dran, eine halbe Stunde dauerte es, eher eine dreiviertel oder mehr, bevor ich reingehen konnte zur Ärztin, das abschließende Testergebnis abholen. Falls der zurückgekehrte Virus wieder in meinen Blutbahnen schwamm, käme der Nachweis › HCV -Antikörper positiv‹ einem Todesurteil gleich – oder? Oder nicht. Oder doch. Wer konnte das so genau wissen? Nicht einmal das Labor, mit seinen geschickten Diagnosen: HCV -Antikörper nicht mehr nachweisbar, so ein Ergebnis ließe ja alles offen. Frau Doktor wird auf den Bildschirm kucken, die Zahlen vorlesen, alles in Ordnung sagen, finito … Und draußen in der Rezeption würde ich den Helferinnen mit strahlendem Gesicht verkünden: Auf Wiedersehen, ihr Vampirchen, auf Wiedersehen für immer! Wie diese junge pummelige Frau neulich, die aus dem Sprechzimmer kam, eine Becker-Faust machte und über den Empfangstresen brüllte: SIEG ! Und noch ’ne Faust über’n Tresen streckte, und nochmal rief: SIEG ! Alles klar, geheilt die Frau, die Helferinnen lachten, Schwein gehabt, das Leben konnte weitergehen.
Und bei mir? Ginge es weiter? … keine Ahnung, kein klares Gefühl, zu viele Störsignale in der Problemzone unterm Gürtel, rechts, links, in der Mitte, die herausgespürten Piekser der Endlichkeit, das dauernde Gegrummel in den Organen … der Schiß, mein Lieber, klar, die blanke Angst … ein permanenter Begleiter, der fürchterliche Schiß, seit ich, den reparierten Computer unterm Arm, die Karl-Marx-Straße runtergelaufen war und für ’n Augenblick in ein unbekanntes schwarzes Loch, in einen ungewollten Fünfhundertstel-Sekundenschlaf, gefallen war, ein kurzer Wischer nur im Oberstübchen, und doch eine Ohrfeige von höchster Instanz, ein Wink vom Ende der Fahnenstange. Neun Millionen Viren in einem Blutstropfen wurden gemessen … etwas Unvorstellbares, Unfaßbares – neun Millionen Viren in nur einem einzigen Tropfen Blut?
Sie haben Glück, hatte die Ärztin damals gesagt.
Weil ich hier noch sitze?
Weil soeben ein neues Medikament zugelassen wurde, Ihre Chance für eine Therapie mit dem gentechnisch hergestellten Interferon.
Nie davon gehört – Interferon, Interferon … Klingt wie ein neues Bahn-Unternehmen, oder ein windiger Geldanlage-Fonds.
Und ich würde Ihnen dringend zuraten. Das ist ein Protein, ein fürs Immunsystem nötiger Eiweißkörper. Sie besitzen es bereits, jeder Mensch hat es.
Warum dann noch nehmen?
Sie brauchen mehr davon, bei Ihrer milliardenfachen Viruslast, erklärte sie, zum Aufbau der T-Helfer-Zellen, der Freßzellen, der Killerzellen; um das Fortschreiten der Hepatitis C zu verhindern, muß das Immunssystem gestärkt werden – Interferon ist die einzige Behandlungsmöglichkeit, die einzige Chance, was anderes gibt es nicht.
Schwer gewöhnungsbedürftig, diese erste Diagnose, die ersten Zahlen, eine Horrorbotschaft. Da hatte es mich also doch noch erwischt, die Leber von Narben übersät, das Blut durchseucht, der Sauerstoff darin limitiert. Doch vollkommen neu war die Problematik nun auch wieder nicht. Die Wochen und Monate, die ich wegen der Therapie mit mir gerungen hatte, waren ja von mir genutzt worden. Erst mal eingelesen in das Thema, rumgehorcht bei alten Bekannten, viele schlimme Sachen gehört: eine Hammer-Therapie, hieß es, jeder zweite bräche sie nach wenigen Wochen ab. Den entscheidenden Anstoß
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