Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Seidenumhang ruckzuck ablegen und sich an beliebigen Stellen nackt ins winterliche Meer werfen kann … Eine Frau, für die es allein altersbedingt den Erlösungszirkus Achtundsechzig nicht gegeben hat, die Drogen, die frühe Emanzipation nicht – sie kam bis hierher ohne all das durch und nicht weiter, alleinerziehend mit einem Kind, eine gelernte, in süddeutschen Stadttheatern bis zur Lustlosigkeit getriezte, schlußendlich verabschiedete Schauspielerin … seit fünf Jahren in Berlin, entlassen in ein Stück, daß sie so wenig kennt wie ihre neue Rolle …
Und da willst du wieder mal Regie führen? Eine rhetorische Frage, die Leiser mit Vergnügen gestellt hatte, um dann in etwa dieses Fazit zu ziehen: Offensichtlich keine Frau, der du noch mal deine Geschichten von anno Tobak erzählen kannst, von den Heldentaten im Underground, deinen 37 Trips und deinem bunten neunundsechziger Nachmittag in der Kommune Eins am Stutti …
Okay, okay, dachte ich – aber wer davon nichts verstand, verstand auch mich nicht. Und wer mich verstehen wollte, der mußte schon über einen dehnbaren Begriff vom Lauf des Lebens verfügen. Der bekam bei entsprechenden Fragen zunächst diese, von mir oft erzählte Kurzfassung für Small talk und Tresen zu hören: Mein Beitrag zur Kulturrevolution? Laß es mich so sagen – das Jahr 1968 brachte mir einen Haufen Geld, einen mörderischen Virus und ein gutes Gewissen … Oder anders ausgedrückt – der Untergrund war ungesund, die akkumulierten Werte teuer erworben und verwandelt in abstracta, meine Sühne, mein Gift, mein Kissen. Für den Fall, daß jemand meine Geschäftstüchtigkeit – ausgerechnet während dieser Zeit – monierte, hielt ich noch einen politisch korrekten Stoßseufzer bereit: Wenigstens einmal im Leben sollte jeder Mensch eine eigene Firma haben … eine wichtige Erfahrung, oder? Bisher hatte Ella jedoch für diesen Teil meiner Geschichte kein allzu großes Interesse gezeigt. Geschweige denn für den Virus, der mich bis kurz vor unserer Begegnung im Griff hatte …
Mir war schon klar, in welche Richtung es gehen würde – Liebe und Sex mit Sechzig in Realität und Fiktion … Ein zukunftsträchtiges, alles offenlassendes Thema, das mein sogenannter Psychotherapeut für sich noch nicht vertiefen wollte, wie er gesprächsweise befand, obwohl er in diesen Tagen in seinem spanischen Haus den 57 . Geburtstag feierte – wegen seiner fürs Miteinander nicht ausreichenden Sensibilität wurde er im Café Fler neuerdings ›der Siebenstellige‹ genannt. Er hatte es geschafft, eine der ihm von mir vorgestellten, wenig aussichtsreich malenden Fler-Frauen mit einspeichelndem, testosteronwirrem Kunstgequatsche in ein Spätrestaurant zu manövieren, wobei er der schönen Pinselquälerin schon beim Aperitif den Appetit auf mehr verdarb … Daß einer im Café Fler verkehre, möge sie nicht zu Fehlschlüssen verleiten, erklärte er, um ihr umgehend seine Vermögenslage zu eröffnen, er sei ein richtig gut abgesicherter, wohlhabender Mann, und zwar im siebenstelligen Bereich. Seither mußte unsere Bekanntschaft ohne weitere Erklärungen im Einsilbigen auslaufen – gut, ein Schuß Sadismus unter Stammgästen, ihm den Grund dafür zu verschweigen. Ich bin sehr, sehr enttäuscht, sagte ich ihm nur – auch fachlich. Über das wenige, das ich ihm zuvor über die Beziehung mit Ella erzählte, hatte er wie ein Leserbriefonkel geurteilt: Es kann nicht gutgehen, wenn bei einem Paar jeder etwas anderes will.
Jeden Moment konnte Ella hier erscheinen … und sich sofort in meiner Küche ungebeten an den Abwasch machen, als sei sie gerade nach Hause gekommen – eine zur Gewohnheit gewordene Übersprungshandlung, unabhängig von der vorhandenen Masse Schmutzgeschirr; eine Tasse, ein Löffel in der Spüle genügten ihr, und irgend was Sauberes nochmals abwischen ging immer. Ich kommentierte das nicht. Sichere Vorhersagen über den Verlauf des Abends ließen sich von diesem freundlich lockeren Auftakt ohnehin nicht ableiten. Seltsam, dieses Küchenleben eines Möchtegern-Paares … als Ella das erste Mal in den gut bestückten Kühlschrank gekuckt hatte, sagte sie schwer verwundert, so viele Essensvorräte bei einem alleinlebenden Mann wär’n nicht normal. Wieso denn, sagte ich, wie immer irritiert durch Vorhaltungen oder Anspielungen, von der Norm abzuweichen – ich muß mich eben selbst bemuttern. Zu spät kam Ella selten, und gar nicht selten kam sie zu früh, viel zu
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