Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
hatte dann etwas ganz anderes gegeben – ein Zufallstelefonat mit einem Kollegen vom Funk, seine bisher unerwähnte, uneheliche Tochter war in der Drogenszene am Ostbahnhof vom Virus erwischt worden und meisterte ihre gerade begonnene Therapie problemlos.
Wat det Mädel kann, det kannste ooch, dachte ich, also bitte, mach’et, fang an, sofort. Dreiundzwanzig war das Töchterchen, genauso alt wie ich – damals, bei der Infektion, als der Virus uns umhaute, einen nach dem anderen, uns von Kopf bis Fuß gelb färbte und mich für zwei Monate ins Tropen-Krankenhaus einsperrte … in der gefängnisartig gesicherten Quarantäne-Station.
Seit den frühen siebziger Jahren kannten wir uns schon, mein Virus und ich, er der einzige, der alle Wandlungen, Umzüge und Liebesdesaster mitgemacht hatte, der offenbar das ganze Leben lang bei mir bleiben wollte – wir zwei als untrennbare Blutsbrüder. Allerdings hatte ich ihn erst kürzlich zum ersten Mal gesehen. Bei einem Vortrag, als sein vergrößertes Bild aus dem Leberpapst-Laptop auf die Leinwand gebeamt wurde – von der Optik her ein Mittelding zwischen Raumkapsel und embryonalem Seepferdchen, ein Lebewesen also und alter Hase der Evolution, seit abermillionen Jahren auf der Welt und entsprechend gerissen. Ein As und ein Aas – der Ha-Ce-Vau konnte die Membran einer menschlichen Zelle durchbohren und wußte stets genau, wo er hinwollte, wo er seine Erbinformation ablegen mußte, eine Gattung mit verdammt langem Atem.
Bei der chronischen Hepatitis C kann es dreißig und mehr Jahre dauern, bis der Verlauf ungünstig wird und womöglich übergeht in die Zirrhose, die Verhärtung der Leber, hatte die Ärztin gesagt – Sie haben viel zu hohe Eisenwerte, beispielsweise.
Ja, weiß ich doch längst – ein Mann aus Eisen sitzt hier, gestählt im Feuer der Jahrzehnte …
Auf den Leberlappen sind etliche Knoten zu erkennen – das könnte auf eine Mottenfraßnekrose hindeuten.
Eine was?
Er war gekippt, der Organismus, beim Gang über die Karl-Marx-Straße, die Sonne schien, Vierzehnuhrzehn, Vierzehnuhrfünfzehn, ein kurzer Taumel – und offenbar schlagartig kursierten zu viele von seiner Sorte, diesem HCV-Genotyp I b, dem indischen Eindringling, der sich da unten in der Leber lange verbarrikadiert hatte wie in einer Container-Burg. Bis die Flut eben losbrach, die Sache eskalierte … immer weniger körpereigene eiweiße Killer gegen immer mehr vitale, fremde Lebewesen. Da half kein Aussitzen mehr, keine Selbstlügen, kein Gejammer – warum bloß, warum mir, warum diese Quittung nach so langer Zeit.
Die Antwort war nicht schwergefallen: Weil alles mit allem zusammenhängt, weil jede irgendwann einmal begangene Tat registriert ist, weil sie irgendwann später ihre Bedeutung, ihre Konsequenzen entfalten wird – denn da ist tatsächlich keine Stelle, die dich nicht sieht.
Dreißig Jahre lang hatte ich gedacht, da passiert nichts, mich relativ sicher gefühlt … Und dann kehrte die Vergangenheit zurück, als Knoten in der Retro-Schleife – ja, ihr Töchterchen vom Ostbahnhof, alles kehrte irgendwann einmal wieder, die 70 er, die 80 er, die Moden, die Drogen, die Verführungen, und eines späteren Tages auch die verfluchten Langzeitwirkungen. Die Ärztin brauchte mir nur ins Gesicht oder auf die Hände zu kucken.
Die spinnennetzartig zusammengezogen Falten in der Mitte der Wangen, das sind die sogenannten Lebersternchen, hatte sie gesagt, dazu weitere Zeichen wie die auffälligen Rötungen auf den Handinnenflächen, die vergrößerten Monde der Fingernägel …
War’n mir noch gar nicht aufgefallen, diese großen, hellen Halbmonde, enorm hochgewachsen, auf fast ein Drittel des Fingernagels, seltsam …
Sie sind krank, sagte die Ärztin, sogar schwerkrank.
Nach jedem Termin bei ihr lief ich stundenlang durch die Stadt, auf kilometerweiten Angstmärschen, wie benommen, unfähig, klar zu denken oder irgend etwas zu tun. Das Fahrrad geschoben, mit toten Augen in Schaufenster, in Läden geschaut: Doch was noch anfangen mit neuen Schuhen, Büchern oder einem Sakko? Dem morgigen Tag? Dem Lächeln einer Frau? Au, au. Es schien, als hätte sich das Leben gedreht, weggedreht, und eine andere, letzte Dimension würde sich auftun – die Mottenfraßnekrose, was für ein Wort, ein Wort für Lyriker, die gern mit dem Pschyrembel arbeiten. Und die Lebersternchen gingen auf, leuchteten hell über Las-Vegas-Mitte, du kriegtest die Kurve nicht mehr, oh,
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