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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wieder rest-forschen Space-Cowboy an der rettenden Interferon-Tanke – zur Verärgerung von Frau Doktor hatte ich ihre Praxis einmal so genannt. Der gestiefelte Ledermann legte die Vermutung nahe, daß er die eigentliche Lehre der Drogen begriffen hatte, die Empfehlung zu einer Art Rückzug nämlich – auch von ihnen selbst …
     
    Jeder Ärztin, jeder in meine Nähe kommenden Sozialarbeiterin konnte ich das glaubhaft erklären – Heroin, nein danke, einmal im Leben und nie wieder, und tatsächlich war’s das letzte Mal, daß mir harter Stoff in die Hände kam … wobei ich mich eher opferte, als es zu genießen. Für eine Frau natürlich, eine vom plötzlichen Heroininteresse erfaßte Zwanzigjährige aus dem Freundeskreis, die sich allein nicht an das Zeug herantraute und Beistand zum Absichern des Gesamtvorgangs brauchte. Der war auch nötig gewesen, wie sich zeigen sollte … wir fielen einfach um, an moderatere Drogen gewohnt, sackten wir beide im Moment des Heroin-Schusses zu Boden, drückten uns sterbensängstlich aneinander und wimmerten ewig lang dem Abflauen der paralysierenden Wirkung entgegen, unfähig aufzustehen, unfähig irgend etwas zu tun – zu stark der Stoff, zu hoch die Dosis. An diesem Abend blieb sie ausnahmsweise ungeküßt, die gute Gudrun, Tochter eines Oberfernmelderats, aber nicht irgendeines, sondern desjenigen, der in der Oberpostdirektion Hamburg die Genehmigungen fürs Abhören der Telefone verantwortete, der eine ständig aktualisierte Liste mit Namen führte, für die sich einige der Jungs aus meinem Freundeskreis interessierten. Es lebte sich ja ruhiger, wenn die Betroffenen Bescheid wußten. Also zählte ich bei Besuchen in ihrem Appartement die Namen der akut Verunsicherten auf, sie wiederum trug diese Namen im elterlichen Heim vor und der seiner Tochter jeden Wunsch erfüllende Vater sagte nichts, nickte nur still und deutlich, wenn ihm einer der Genannten von seinem Schreibtisch her bekannt vorkam. Eine für alle akzeptable Technik, die einigen Leuten einigen Ärger ersparte … Und der zweite Grund, mich für die Sessions mit Gudrun zu opfern – bis zu diesem Heroinabend, der meinen generellen Abschied von harten Drogen und den entsprechenden Teilen des Bekanntenkreises einleitete. Was nicht hieß, dem Gefühl heroiner Abgeschlagenheit entkommen zu sein … denn über Jahrzehnte wurde das geschwächte Ich Tag für Tag von einer immergleichen, spezifischen Mattigkeit befallen, von einer nicht meßbaren, aber existierenden Minderung der Energien in seiner Wirkung eingeschränkt … Vielleicht hatte dieses Handicap zur Lebensform einer sogenannten verbummelten Existenz geführt, zu einer biochemisch begründbaren Spielart der Leistungsverweigerung … nicht aus charakterlichen oder weltanschaulichen oder frühkindlichen Gründen, nein, verursacht von einem Virus – mithin von mangelnder Entgiftung.
     
    Längst überflüssig also, mit dem Auftischen solch alter Geschichten renommieren zu wollen … Überflüssig auch, darauf zu bestehen, daß eine die rebellische Persönlichkeit zierende, lebenslang sichtbare Narbe zurückgeblieben sei – wenn nicht vom bewaffneten Kampf, dann doch wenigstens vom Ritt auf der Rasierklinge in Richtung eines anderen Extremismus. Die einen wurden aus ihrem sozialistischen Utopia vertrieben, die anderen aus dem künstlichen Paradies – nach dem Aufwachen blieb beiden ein Kater. Was nicht verhinderte, daß es einem angesichts der vielen verreckten, wirklich bedeutenden Gestalten der damaligen Bewegungen gelegentlich als peinlich aufstoßen konnte, überhaupt noch am Leben zu sein …
     
    Halt Schwein gehabt, das war mir klar, als ich in die Materie einstieg, mit einer ungeahnten Gründlichkeit einstieg. Über Monate lag der alte Pschyrembel am Bett, 280 . Auflage, ein Klotz von Buch, in dem man mit größtem Vergnügen Verdacht schöpfen konnte auf die Anzeichen aller nur erdenklichen Krankheiten … und obendrein den Übergang zur weiterführenden Literatur finden würde. Die Thieme-Bücher lagen auf dem Nachttischchen, die wichtigsten Periodika wie Lancet, nature, das feine New England Journal of Medicine, dazu der Harrison’s, der bedeutendste aller Gesundheitsführer, 4200 Seiten stark, im Jahr 2002 erstmals auf deutsch … okay, wurde in Auszügen gelesen, wieder und wieder das Kapitel 297 , Chronic Hepatitis – höchst erstaunlich, dieses Interesse, die ungeheure Lebensbejahung, auf den letzten Drücker kam eine ganz neue Abteilung in

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