Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Gewissen, dem gleichen Herumgedruckse aus Angst vor der Reaktion, dem womöglich aggressiven Ton, den unwiderlegbaren Argumenten … Du kannst mir erzählen, was du willst – aber so richtig verstanden hab ich die Sache noch immer nicht. Was eigentlich hat dich dazu gebracht, so etwas zu tun? Warst du ein Idiot? Ein postpubertärer Schlaumeier, der bei jeder Mutprobe mitmachen muß, um nur nicht als Langweiler zu gelten? Das sind doch keine vernünftigen Begründungen, Frust, Enttäuschung über die Verlogenheit deiner Freunde, über den Verlust von Utopien, naiven Utopien dazu. Wie konntest du ernsthaft annehmen, deinen Weltekel durch Drogen in prompte Zufriedenheit zu verwandeln? Wie konntest du glauben, ausgerechnet mit Opiaten den Vollbesitz aller Kräfte zu erlangen? Einzig so die Intensivierung allen Geschehens zu erreichen, die Konzentration ins höchstmögliche Stadium zu steigern? Intensiverer, besserer Sex, sagst du? Nur Liebe macht guten Sex besser – verstehst du! Deine Drückerei war hirnrissig, Freundchen, eine Verfälschung jeglichen menschlichen Maßes, ein schweres Vergehen – und der Virus bedeutet nichts anderes als die Rache der Natur, die lange, lebenslange Strafe für die überheblichen, nadelfeinen Manipulationen, die dilettantische Verarztung von Gesunden.
Und Jahre, Jahrzehnte nach den Räuschen gaben die Stammgäste hier ihr durcheinandergeratenes, rebellisches Blut ab … Sie schluckten stecknadelkopfkleine Kameras fürs Video aus dem Bauch, warfen einen Haufen teurer Sachen in den Rachen, holten sich ihre Monatsspritzen für zu Haus und standen wie einst mit verräterischen Plastiktüten in der U-Bahn. Sie haderten mit der Therapie, die sie Woche für Woche ausknockte, die sie umhaute wie eine schwere, nicht enden wollende Dauer-Grippe, sie rundum mit künstlich erzeugten Schmerzen versorgte, dem permanenten Kopfweh wie nach versoffenen Nächten. Versaute Tage, Tage des kraftlosen, lebertranigen Abarbeitens – ein Labour-Day nach dem anderen, erzählte ich Sprachgewitzten, der Leber-Day, ein Kampftag gegen die Elemente. Da war nichts zu machen gegen die erweiterten Blutgefäße, die an die Hirnhaut drücken, nix zu machen gegen die zwei Folterknechte, den Rigor und den Pruritus, die Muskelsperre und den lästigen Juckreiz – und erst recht nicht gegen das Ritual des Montagsschusses, wobei nach Ewigkeiten wieder mal eine Spritze in der Hand lag.
Widerlich, 48 Montage lang. Da waren die Erinnerungen ganz von selbst hochgekommen, diese Geschichten eines früheren Lebens, das er für vergangen, vergeben und vergessen hielt – und nun durfte er sich noch mal klarmachen, wie dumm er mit zwanzig war, beeindruckbar von Drogen, Gerüchten, Gurus wie Sweti, verführbar von immer mehr unbekannten, harten Stoffen, die reine Selbstzerstörung. Eine Weltsekunde lang ließ sich leicht glauben, das Zeugs erweitere den Horizont, mache freundlicher, schärfe die Wahrnehmung, verschärfe den Sex, der noch nicht Sex genannt, sondern metaphernreich umschrieben wurde: Lucy in the Sky with Diamonds … Tatsächlich half das Zeug eine Weile bei der Weltbewältigung, sortierte eine Zeitlang Gesichter in gute und böse, hob Grenzen zwischen DU und ICH auf – ein angekiffter, frühreifer Zynismus verzerrte die Realität und entwertete sie … verwandelte sie eine dauerbelachte Satire … Auch bei den harten Sachen dachte anfangs niemand an die Folgen, an die limitierte Belastbarkeit des Organismus … oder daran, eine ihn auf ewig von anderen unterscheidende, bleibende Prägung zu erhalten und sich von den Möglichkeiten einer eigenen, unvergifteten Zukunft zu entfernen. Was damals für ein paar Saisons die willkommene Steigerung des Lebensgefühls bewirkte, zog lange nach Absetzen der Drogen in späteren, abstinenten Zeiten eine irreversible Entdynamisierung und physische Schlaffheit nach sich – oder, noch verheerender, eine ebensowenig aufhebbare, dauerhafte Geringschätzung des gewöhnlichen Lebens, über deren Ursachen gerätselt werden durfte.
Neugier war’s, göttliche Neugier – außerdem mußte man das Angebot der Darmstädter GI s oder die Mitbringsel befreundeter Amsterdambesucher doch wenigstens mal ausprobieren. Was sonst hätte ich der Hepatologin sagen können … ihre Vorstellungen wurden letztlich von den hier aufkreuzenden, elenden Gestalten geprägt, den süchtigen Kindern vom Ostbahnhof … War alles anders bei uns Vorgängern, Frau Doktor, wir hielten uns für den
Weitere Kostenlose Bücher