Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
ein Plan, den ich auszuführen habe und daher dieses Ding jetzt bauen, den Virus herstellen muß, tagein, tagaus, Millionen davon wie am Fließband …
Ende des Termins, da ging er wieder mal hin, mein Schwerpunktpraxengenosse, unser Space-Cowboy, seine Interferon-Tüte in der Hand. Draufgedruckt der Produktname ›Pegasys‹, daneben das Logo mit dem sich aufbäumenden Hengst, einem kräftigen Schimmel und gnadenlos optimistischen Werbe-Symbol für die zu machende Pferdekur … Offenbar steckte der Cowboy noch mittendrin in der Therapie und trug seine Monatsration nach Hause, ein nicht gerade billiges Mißvergnügen, die 180 -Milligramm-Dosis kam auf achthundertsoundsoviel Euro – damals in Amsterdam kostete das Opiumplättchen zehn Gulden, nett verpackt in leicht öligem Rasierklingenpapier.
Eine Plage mit ungewissem Ausgang war’s, Tabletten schlucken, für ’nen knappen Tausender monatlich jeden Montag die wäßrige Flüssigkeit in den Bauch drücken, ganz brav, gemäß dem Kleingedruckten auf der Trage-Tüte – ›Auch an schweren Tagen Ihr Ziel vor Augen: Ich will gesund werden!‹ Die Werbung perfekt, der Markt riesig, allein in USA und Westeuropa dürften Millionen Interferon-Kunden dort abgeholt werden, wo der Virus sie hinbugsierte. Ein gefundenes Fressen für diese Pegasys-Verkäufer, ein Coup für die Aktionäre … und der gar nicht abwegige Gedanke, mich ein weiteres Mal für das Opfer, das Versuchskaninchen einer Drogenmafia zu halten. So gesehen ein doppeltes Nullsummenspiel … denn die dreißig- oder vierzigtausend Mark, die meine kurze, von der Virusinfektion beendete Suchtphase einst gekostet hatte, wurden dreieinhalb Jahrzehnte später ein zweites Mal fällig … Mit nur einem kleinen Unterschied – das erste Mal wurde ein Haufen Geld an eine illegale Drogenmafia gezahlt, das zweite Mal hingegen an eine legale, gesellschaftlich sanktionierte … eine, die beim Pillenandrehen angstfreier und schamloser hinlangen konnte als die seinerzeit wie Kriminelle verfolgten, halbwegs fair handelnden Giftzwerge.
Dank Interferon jedoch fraßen die Motten jetzt langsamer, das Jahr der Quälerei konnte nur gut gewesen sein … oder enttäuschend. Denn was sollte diese Glücksbotschaft heißen, HCV -Antikörper nicht mehr nachweisbar? Nicht mehr nachweisbar, aber noch da? Der Virus versteckt unter der Kniescheibe oder in einem netten, unauffälligen Ödem hinterm Ohr? Als virtueller Code für immer in den Organismus versenkt, wie manche meinten, und jederzeit wieder abrufbar, wie andere sagten? Eine zermürbende Ungewißheit – doch andere Menschen wußten genausowenig, wie es gerade um sie bestellt war, was wann und warum zu welcher finalen Katastrophe führen würde.
Nirgends paßte er besser, dieser alte Kierkegaard-Satz vom Leben, das vorwärts gelebt und rückwärts begriffen werde … Denn woher hätt ich mit zwanzig wissen sollen, wie sehr mir vier Jahrzehnte später noch immer an diesem Leben gelegen sein würde … Mea culpa, dachte ich, tausend Mal mea culpa.
Nach einer Stunde des Wartens hatte Frau Doktor mich ins Sprechzimmer gerufen – einen nach wie vor irritierend himmelsnahen, rundum verglasten Raum, in dem sie wie in einer Kanzel acht Stock hoch über der Friedrichstraße arbeitete, hinter ihrem Stuhlrücken der betonierte Abgrund. Einmal mehr saß ich ihr am Schreibtisch gegenüber, sah in die Häuserschlucht hinunter und überspielte meine Panik mit irgendeinem süffigen Bonmot aus trockenem Mund …
Die Zahlen der letzten, entscheidenden Untersuchungen des Labors sind erfreulich stabil, erklärte sie – selbstverständlich können Sie auch wieder Alkohol trinken … in Maßen.
Abends im Café Fler freute sich mein junger Spezie Paul über das Untersuchungsergebnis – stimmt also doch, hatte er gesagt, man lebt nur zweimal. Am Tresen sitzend, warf ich mit gespitzten Fingern die restlichen Tabletten einzeln in den meterweit entfernten Abfallkorb – jeder Treffer ein von meinem Nebenmann mitbejohlter Akt der Befreiung. Allerdings nur so lange, bis mir der Preis der überteuerten Pillen und die damit verbundene Verpflichtung einfiel, angebrochene Schachteln nach Ende der Therapie in die Schwerpunktpraxis zurückzubringen.
E lla saß, im Gehen begriffen, noch neben mir auf der Couch, als ziemlich überraschend Katja angerufen hatte – das war seit fünf, sechs Jahren nicht mehr passiert, kaum verwunderlich bei unseren getrennten Lebenswelten. Sie
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