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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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den Kopf, Belletristik raus, Fachliteratur rein.
     
    Du bist eben doch ein Hypochonder, hatte Leiser gesagt – irgendwann findet jeder sein Thema.
     
    Und wie nennt man die Leute, die das Rauchen und den Alkohol aufgegeben haben? So wie du, seit 1987 , soweit ich mich erinnere.
    Ein Jahr war mit der Jagd auf den Virus vergangen, ein Jahr mit der Suche nach Klarheit, mit dem Studium hunderter Statistiken … Tatsächlich bestand Medizin im wesentlichen aus Statistik, schwer zu entziffern, doch viel emotionsgeladener als Fußball-Tabellen. Jedes Zwicken und Zirpen der Organe wollte richtig gedeutet, die Interferon-Schlacht strategisch kontrolliert sein – keiner kennt den eigenen Körper. Wer wüßte denn, was Blut ist, was Blut alles tut, wer hat auch nur einen Schimmer von der biochemischen Koordinierung der Organ-Funktionen? Was passiert mit dem Schluck Wasser, dem Stück Brot im Bauch? Metabol, anabol, rein und raus, und dazwischen äußerst komplizierte Vorgänge … Der große Wissensdurst hätte eigentlich schon früher kommen können, nicht erst, wenn es einem an den Kragen geht.
     
    Übertreiben Sie nicht, hatte die Ärztin gesagt, so wie’s bei Ihrem Befund aussieht, liegt die Sterblichkeitsrate bei 50 Prozent innerhalb von fünf Jahren.
     
    Siebzehn Prozent der Raucher kriegten diese oder jene schwere Krankheit, elf Prozent der Infarktopfer könnten noch leben, wenn sie die richtige Telefonnummer gewählt hätten – und für mich also fünfzig Prozent Tod binnen fünf Jahren, eine reelle Chance, fifty-fifty …
     
    Mitglied der Deutschen Leberhilfe e.V. war ich bereits, auch häufiger Gast bei der Medizinischen Gesellschaft und ihren hauptseminarhaften Vortragsveranstaltungen – ganz zu schweigen von den textärmeren, aber üppig gesponserten Dinner-Buffets der Pharma-Industrie. Kein Problem, auf die Teilnehmerlisten brav den Doktor vor meinen Namen zu malen – wie einst auf gefälschte Rezepte. Beim Sektempfangs-talk mit dem Leberpapst reichten meine Kenntnisse für mindestens sieben Minuten. Und meistens vertraten wir ähnliche Meinungen, auch in der Stammzellenproblematik, denn nur auf gentechnischem Weg ließe sich die Membran der Leberzellen so verstärken, daß die Viren, der HIV , der HCV oder sonst einer, dort nicht mehr hineinkämen, nicht mehr durch das dünne, die Zelle ummantelnde Häutchen eindringen könnten ins Innere. Unsinnig jedoch, anschließend selbst Vorträge zu halten für alle im Café Fler, die es gar nicht so genau wissen wollten, sich aber bei diesen Themen auch nicht verschlossen zeigen mochten – angesichts grassierender Medizin-Magazinitis, des wie krankhaft ausgebrochenen Gesundheitsimperativs, der täglich wachsenden Zahl der Gebote und Verbote. AIDS erklären zu wollen, am Tresen, lächerlich, die Wirkungsweise von Interferon beschreiben zu wollen, von – genau gesagt – pegyliertem Interferon alpha zwei a, vollkommen lächerlich. Bei den Hausphilosophen konnt ich’s noch versuchen, den anderen beschrieb ich es so: Meine Leber und meine Blutgefäße werden ein Jahr lang mit ATA saubergescheuert.
     
    Die Leber organisiert in jedem Augenblick des Daseins rund hunderttausend Funktionen, hatte die Ärztin gesagt, auch dann, wenn Sie hier völlig ruhig auf Ihrem Stuhl sitzen …
    … ja klar, Frau Doktor, ich sitz hier wie im Korsett, mit zuviel Lipiden, der nur intermediaten Peroxidation, schon über Monate.
     
    Sie schätzte es gar nicht, wenn ich zuviel mitarbeitete, die Dinge erklärte, zusammenreimte: Erythrozyten, Leukozyten, Thrombozyten, Groß Ziethen und Klein Ziethen.
     
    Schon gut, sagte sie dann, aber meine Zeit ist begrenzt.
    Transaminasen, Polymerasen, Metastasen, Fibrose, Schlaubergerdose, Nekrose, Zirrhose …
    … Sie wissen ja über alles Bescheid …
    … und mache neuerdings große Entdeckungen wie die der Milz, ein fast vergessenes, kaum diskutiertes Organ …
    … ist für die Behandlung unwichtig …
    … ein Friedhof für tote rote Blutkörperchen, die im rasanten Fluß der Venen und Arterien unfallartig zusammengerasselt sind, sagte ich – in der Milz kompostieren wir Zellen mit Dellen.
     
    Nein, sie schätzte es nicht, wenn ich Rätsel weiter verrätselte und mir die Immunantworten selber gab, den Kopf voller Studien – überraschend fleißig dabei Taiwan, auch Spanien, die USA sowieso, die rechneten sogar den Verdienstausfall pro Therapie-Woche aus, 156 Dollar Miese, alle Fakten abzusaugen aus Schaubildern, Tabellen und sonstigen

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