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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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rebellischen Drogen-Flügel der Bewegung, für einen Wahrheitssuchtrupp, eine Pionierabteilung der Weltrevolution, wichtig für den allgemeinen Bewußtwerdungsprozeß … In jeder linken Siebzigerjahre- WG gab’s mindestens einen von unserer Sorte, von der unkommerziellen und unkriminellen ersten Dope-Generation, gute Leute, Grafiker, Musiker, Künstlerkandidaten, Charakterköpfe mit meterlangen Haaren, Querköpfe, Wirrköpfe, Shit-Köpfe, total anstrengend für andere mit ihrem … Pioniergeist, ihren sensibilistischen Redeschüben, den sonderbaren Wahrnehmungen. Damals lotete die psychedelische Avantgarde die biochemischen Möglichkeiten aus, getreu der Devise, dem radikalen Drei-Schritte-Modell, tune-in, turn-on, drop out, ja, raus aus den gesellschaftlichen Zwängen, raus-tropfen aus dem Schwachsinnszusammenhang, raus-gehn aus der bis dahin bekannten »Realität«. Wer, Frau Doktor, wer wollte da an später denken? An 33 , 34 Jahre später?
     
    Aber jetzt hat Sie die Realität wieder eingeholt, hatte die Ärztin gesagt und mir den Ausdruck des Blutbilds rübergeschoben.
     
    Eine Episode nur, ein kurzzeitiger Ausnahmezustand, erklärte ich ihr, frei nach dem Motto … er drückte nur einen Sommer lang … ein Sommer der Erkenntnis, doch am Ende lauerte die banale blöde Vernunft. Dafür hätte es die Spritze eigentlich nicht gebraucht … Aber bitte, Frau Doktor, es ist nun mal passiert.
     
    Leider ist Ihr Virustyp der hartnäckigste von allen, sagte sie – und Sie tragen ihn überdies schon sehr, sehr lange Zeit.
    Die Infektion stammt aus dem Jahr 1968 , um genau zu sein, aus einigen bewegten Nächten im Sehnsuchtsmonat August.
    Bei einer so langen Zeitspanne dürfte es keine allzu großen Hoffnungen geben, daß der Virus durch die Therapie komplett verschwindet.
     
    Was hätte ich ihr noch erzählen sollen, in meiner knappen Sprechstundenviertelstunde, welche Begründungen geben für dieses seltsame Hobby, seine erregenden Anfänge, die übers Jahr zu Anfängen vom Ende wurden? Was ihr erzählen vom erdigen Geruch köchelnder Opiumsuppe, dem ersten Zähneklappern, vom Speedball, dem original Cocktail-Rezept von William Burroughs, diesem raffinierten Mix aus Morphin und Amphetamin, der einem die perfekt ausgeglichene Stimmung garantierte … – gab’s alles längst in Romanen nachzulesen, Frau Doktor, natürlich nicht in ihrer Junge-Pioniere-Bibliothek in Marzahn. Wozu ihr etwas erzählen vom legendären Flash, der beim Einschießen der Substanz den Körper für Sekunden durchrüttelte, ein vibrierendes Loszittern, als ginge es im Sputnik in den Orbit. Sie würde nichts verstehen, und andere auch nicht, keiner würde nachvollziehen können, was wir taten, warum wir Freunde zusammen lange auf dem Fußboden liegenblieben, nur das Allernötigste redeten, was zugleich auch das wahrste Wahre war – stoned wie gewünscht, in einer niemals wieder erlebten, seelenberuhigten Runde, in der Gemütsverfassung alter Chinesen, realitätsvergessen, selbstvergessen entschwebt in eine Lichtjahre entfernte Ferne, in die Ereignislosigkeit, the Other World, eins mit allem und allen, besänftigt und zufrieden in diesem Ambiente aus schmuddligen Matratzen, wackligen Tischchen und unbedeutender Musik.
     
    Was die Ärztin nicht gesagt hatte: Und jetzt, du kleiner, gnadenloser Fixerfaschist, wird dir die Rechnung für dieses angeblich bescheidene Vergnügen präsentiert, jetzt begreifst du die Konsequenzen, jetzt wird abkassiert, so wie bei jeder Exklusiv-Nummer im Westen irgendwann abkassiert wird, zuzüglich Steuern.
     
    Jedesmal aufs neue seltsam, das Schweigen im Wartezimmer, dieses unveränderliche Verhaltensmuster einer Verzweiflungsgemeinschaft, die sich bestimmt manches zu sagen gehabt hätte, aber lieber die Hepatitis-Chat-Rooms im Internet bevölkerte. Der reine Wahrnehmungssport, bei jedem Termin zwischen normalen Leberkranken und Junkies zu unterscheiden, einfache Fälle wie den Mittvierziger gegenüber auszukucken – Typ harter Kerl in weichem Leder, ein Abgrundforscher im Selbstversuch, mit Brilli im Ohr und dem leicht erholten Gesicht eines noch nicht allzu lange von der Nadel Gegangenen … Was könnte sein Motiv fürs Drücken gewesen sein? Welche Lücke hatte er schließen wollen? Vielleicht die des zu früh von der Mutterbrust entfernten, verstoßenen Kindes? Keine Leidensmiene wie bei den älteren türkisch-arabischen Frauen hier, eher eine Spur ungläubigen Aufatmens war bei ihm zu sehen, einem schon

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