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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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shit, a-ddios … Könnten auch poetischen Mehrwert abwerfen, diese krähenfüßigen Brandmarken verlöschender Lebensglut mitten im Gesicht … Absolut erschreckend blieb dagegen die Vorstellung von neun Millionen kreglen Viren in jedem Milliliter eigenen Safts – muntere Viecher, die in den Adern fließende Zellen und Blutkörperchen wie Hooligans anrempelten, ihnen den Sauerstoff wegsoffen und mich fertigmachen wollten.
     
    Aber warum sollte der Virus einen umbringen? Den Baum fällen, in dem er sitzt? Du bist doch sein Wirtstier, erklärte mir Nirmegh, der buddhistische Medizin-Barmann abends am Café-Tresen, also braucht der dich noch …
     
    Der Ha-Ce-Vau war ja nicht der Ebola und nicht Ha-I-Vau, sein verbrecherischer Bruder, ein sogenannter Retro-Virus auch er, weil unterwegs in der RNS , der Ribu … Ri-bo-nu-kle-in-säure. Der Ha-I-Vau, der schlimmste von allen, tarnt sich beim Eintritt ins Immunsystem mit der dort gültigen Polizieiuniform, ein tödlicher Bluff wie im Krimi oder im Mittleren Osten. Zwei Sorten Killerzellen, verschieden im Bau, gleich im Aussehen, die bösen beißen die guten, diese Saubermänner des Organismus ratzbatz weg und können, falls doch einmal erkannt, im selben Moment ihre biochemische Matrix verändern, sie aufs neue verschlüsseln und sich wie ein Regenwurm in mehrere voll funktionsfähige Teile entkoppeln – so agiert ein Doppelagent des Grauens, der HIV , unschlagbar.
     
    Dagegen ließ es sich mit dem HCV ganz gut leben. Wir hatten uns arrangiert, wohnten im selben Leib, die Killerzellen behielten die Oberhand – na ja, so lange eben, bis sie weniger und schwächer wurden, bis zu dem vor einem Jahr erkannten, syndromischen Immundefizit. Erst dann erreichte der Virus sein Ziel wie ein ferngesteuerter, unausweichlich anfliegender Pfeil, der Jahrzehnte zuvor abgeschossen worden war, in einer längst versunkenen Zeit, im Chaos der Profilierungskämpfe, der Verführbarkeiten, der Irrungen und Wirrungen … auf der Reise in ein bonbonfarbenes Land, another land …
     
    Wohin sollte die Reise damals eigentlich gehen? hatte die Ärztin gefragt.
     
    Gar nicht so einfach, einer Frau aus der ehemaligen DDR den komplizierten 68 er-Kram zu erklären, diese unendlich ergiebige Kurzgeschichte, deren historische Pointen die Ossis am wenigsten verstehen konnten – schließlich wollten sie drüben den erzwungenen Sozialismus schon wieder loswerden, als im Westen noch für eine quasi-sozialistische Revolution gekämpft wurde. Schwer, so jemandem diese experimentelle Zeit zu verklickern, den Aufbruch zu allen möglichen neuen Ufern, den unbedingten Ungehorsam einer ganzen Generation, die auf der Schaumkrone einer Welle ritt … Unter der Woche Streit mit der Obrigkeit, am Wochenende Festivals, die Stones und Hendrix vor Augen, in der Gruga-Halle oder auf Fehmarn, real, Frau Doktor, nicht als Dekadenzfilmchen im DDR - TV – dazu Hoffmannsche Pillen und feine Kräuter aus den herumgehenden Lederbeuteln der Blumenkinder.
     
    Schön war die Zeit, Frau Doktor, hatte ich gesagt, es hat einen mitgerissen.
    Das reicht noch nicht als Erklärung für Ihre Infektion, hatte die Ärztin gesagt.
    Eine Jugendsünde, nichts anderes, so unvermeidlich wie dämlich, diese verfluchte Sehnsucht nach Wahrheiten, der Übermut damals, das Spiel mit allen Feuern …
    … also Drogen, sagte sie, Spontaninfektion durch den Gebrauch von Drogen, das muß hier in den Akten notiert werden.
    Es ging halt hoch her und tief runter, sagte ich, der Underground war kein Kindergeburtstag – auch wenn’s manchmal danach aussah.
    Haben Sie vom Hergang dieser Feier nicht eine etwas genauere Vorstellung?
     
    Seit dem ersten Termin hier hatte ich mich bemüht, ihr durch Kenntnisse und dialogreife Bonmots sprachlich aufzufallen – so wie ich es in Gesprächen mit anderen Ärzten auch versuchte – in der leisen Hoffnung auf bessere Behandlung. Sie blieb dagegen immer streng sachlich, keine kritischen Bemerkungen, keine moralischen Anspielungen. Niemals sagte sie das, was sie dachte, aber ich glaubte es zu hören – auch sie sprach mit der metallischen Vorwurfsstimme mancher Frauen, wie jene meiner Freundin Régine, der ich die Leberentzündung kurz vorm Ausbruch hatte beichten müssen … wo ich schon genauso stockend über das Thema redete wie fünfunddreißig Jahre später in dieser Praxis, damals schon wie heute absolut geläutert und weit weg, ganz weit weg von Drogen, aber nach wie vor mit dem gleichen schlechten

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