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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Verwirrungsangeboten. Denn falls die Leber tatsächlich nach dem Plan Gottes geschaffen worden ist, hat ihn dabei nicht die Sorge geleitet, sie so zu machen, daß Ärzte und Patienten sie begreifen. Mit ihrer Hilfe stärkt zum Beispiel ein einzelner, naheliegenderweise durchschnittlich ausgeführter Akt das Immunsystem um glatte 30 Prozent! Das wäre also die wahre Funktion des Orgasmus – er sorgt für mehr Sicherheit im Stoffwechsel! Eine Stunde lang sausen vom sexuellen Höhepunkt erzeugte, zusätzliche Killer-Heerscharen los, um die älteren, virusinfizierten Körperzellen zum Selbstmord zu zwingen. Gar nicht auszudenken, was mit HCV -Kranken passiert, die keinen Orgasmus haben! Da drängte sich die Vorstellung auf, einen Krankenschein für zehn Einheiten von diesem Überlebensmittel zu verlangen – wie sonst, Frau Doktor, sollte denn ein depressiver, von zig therapeutischen Nebenwirkungen um seine Ausstrahlung gebrachter Single zu seinem Immunschutz kommen. Doch drei Tage später verriet das nächste Gesundheitsmagazin, daß Fallschirmspringen viel effektiver sei, schon ein einziger Sprung ließe die Killerzellen im Blut um 250 Prozent steigen! Drei Sprünge pro Woche müßten demnach reichen, um die Mottenfraßnekrose im Luftkampf zu besiegen – bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie …
     
    Für den Sprung aus den Wolken dürfte es ein paar Jahre zu spät sein, hatte die Ärztin gesagt.
    Im Augenblick wär’s sogar für beide Methoden zu spät – dank des Libidokillers Interferon, siehe Tabelle drei der Nebenwirkungen …
     
    Für vieles dürfte es zu spät gewesen sein. Daran änderten auch die verbesserten Kenntnisse nichts – jedem Wissen fehlte letztlich ein Detail, eine entscheidende Information. Vor vierzig Jahren brauchte nur ein weitgereistes Kerlchen aufzutauchen, das einen unbekannten Virus mitbrachte – ein Junkie-Veteran, der damals schon aussah wie nach zwölf Monaten Interferon, ein schlapper, von Indiens Sonne ausgebleichter Giftzwerg mit einem über Jahre gewachsenen, happigen Handelsdefizit aus mindestens 156 Dollar Miesen jede Woche.
     
    – Der Virus stirbt nicht beim Auskochen der Spritzen, erklärte Frau Doktor, er stirbt erst bei circa 200 Grad …
    … ja genau, das war das Detail, das dem damaligen Wissen unseres Drogengurus fehlte …
    … dank dieser Widerstandsfähigkeit konnte das Tierchen die Hölle der Evolution überleben …
    … und zwar in mir überleben, hatte ich gesagt, gar nicht auszudenken, wie ’s Leben ohne diese Tierchen gelaufen wäre, vielleicht ein Sitz im Bundestag, vielleicht in ’ner fetten Chefetage, im eigenen, freistehenden Haus – womöglich wär ich nach Paris gegangen, oder einer geworden, der keine Angst vor dem Entschluß gehabt hätte, sich mit Haaren bis zum Arsch als Hippie weltweit rumzutreiben und Bücher zu schreiben … Ohne diese Tierchen im Blut hätte ich vielleicht ins normale Leben gefunden, um ganz bürgerlich Régine zu heiraten und später einfach nur ein teils guter, teils schlechter Mensch zu sein … Möglich aber auch, daß ich wie andere von achtundsechzig bei ungebremstem Tatendrang im Knast gelandet wäre, im Untergrund verschwunden, oder längst im Sarg.
     
    Tatsache blieb, daß der Virus mich in das seitenverkehrte Leben eines Tagesmüden und Nachtwachen hineinmanövriert hatte, mich fürsorglich belagerte und anderen aus meinen Augen verräterisch zublinzelte … Seht her, ich bin’s, Virus, der Giftige, der Königsparasit, sitz schon ewig im Nacken dieses Mannes, also traut ihm nicht, er steht unter Einfluß …
     
    Verdammt paranoid, dachte ich, dieses Gegreine aus Ängsten, verspäteten Erkenntnissen und Rechtfertigungen, das sich während der Therapie partout nicht unterdrücken ließ. Erst recht nicht nach der jüngsten, von Harrison gestützten Entdeckung … Der eigene Körper war der Täter! Er multiplizierte den einmal gemachten Fehler ins Unendliche … Sah eigentlich stabil aus, in der Vergrößerung, so eine Leberzelle, ähnelte von der Form her einem Reiskorn, in das einzudringen der Virus mühelos schaffte – Fehler Nummer eins. Ein genetischer Fehler, da die Membran, das Schutzhäutchen drumrum so dünn war, daß er einschlüpfen und im Inneren seine Erbinformation wie ein Kuckucksei ablegen konnte. Und dann passierte der zweite, unerklärliche Fehler, denn in der Zelle begann eine Art Denkprozeß:
    Kuck an, da bringt mir jemand Arbeit … Die mir hier vorgelegte Erbinformation ist ein Auftrag,

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