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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gleichgeschlechtlich Liebender geworden … kosmetische Geruchswolken schwebten mich auf dem Bürgersteig an … für Sekundenbruchteile nur, idiosynkratische Momente, versteht sich. Dieser alltägliche Anblick großer Gruppen nach islamischer Sitte gekleideter, oft übergewichtig wirkender Frauen wie auch der allabendliche Anblick händchenhaltender Männerpärchen schränkten meine ohnehin abnehmenden erotischen Imaginationen noch weiter ein. Doch genausooft wie ans Wegziehen dachte ich ans Hierbleiben, so daß sich außer dem Umzug aus der alten, seinerzeit von Katja gemieteten, in eine 150 Meter Luftlinie entfernte, neue Wohnung über Jahrzehnte keine weitere Veränderung ergeben hatte; persönliche Schwerkraft hielt mich an dieser Stelle fest. Leiser dachte da anders … Für alle Ewigkeit am selben Fleck zu hocken und nicht wenigstens in der eigenen Stadt raumgreifende Umzüge in unterschiedlichste Quartiere vorzunehmen wäre für seinen Erfahrungsbedarf als Schriftsteller inakzeptabel.
    Na dann gegen drei in deinem Café da, hatte er am Telefon gesagt … mit einem nach meinem eventuell täuschenden Eindruck gönnerhaften Unterton. Ärgerlich nur, daß ich schon auf dem Weg dahin scheinbar grundlos nervös wurde. Ausgerechnet ihm, dem erheblich Jüngeren, räumte ich diesen wichtigen Rang ein – eine Autorität gar von der Art, die vermutlich jeder Mensch einem ganz bestimmten anderen verlieh und gelegentlich brauchte, um sich auch schwer hinnehmbaren Klartext sagen zu lassen … Das hatte weniger mit meiner Bewunderung seiner literarischen Fähigkeiten zu tun, auch weniger mit dem Vertrauen gleich-zu-gleich sprechender Freunde – nein, der Jüngere war zum großen, vernunftgeleiteten Bruder geworden, zu einer quasi familiären Instanz, also der, die mir als Umgangsform zeitlebens fehlte. Die Gespräche mit Leiser zeigten zumindest zwei-, dreimal jährlich, wie wenig ich einverstanden sein durfte mit meiner, nahezu alle Fragen und Probleme betreffenden Indifferenz.
     
    Nicht viel Betrieb um diese Zeit – mehrere Tische entfernt voneinander meditierten zwei Männer in ihre Laptops, zwei Frauen lasen mitgebrachte Ausdrucke. Wie gewohnt am Tresen sitzend, puzzelte auch der junge Paul an seinem Computer. Überschwenglich und schon von ein, zwei Glas Wein befeuert, wollte er mir eine neue Kompositionssoftware vorführen, simple, klischeehafte Technoklänge, lustig und leise quäkend aus dem Lautsprecher. Bin gleich verabredet, sagte ich ihm, worauf er, mit der Mouse-Hand weiterspielend und wie stets total optimistisch gestimmt, sofort vermutete: Ah, mit der tollen Ella, was macht die denn so. Wie oft willst du mich das noch fragen, sagte ich … keine Ahnung, aus und vorbei … wir haben es probiert, es hat nicht funktioniert … Der Satz schien direkt ins immer offene Zentrum von Pauls Begeisterungsfähigkeit zu treffen – hey, das paßt, sagte er, klickte einen Rhythmus herbei und skandierte den, wie er meinte, gerade entstandenen Song-Text in verschiedenen Intonationen: Wir-haben-es-probiert---es hat nicht funktioniert, wir / ha … ben / es / pro … biert, es … hat … nicht … funktio … niert, wir haben … In dem Moment erschien Leiser, und wir setzten uns an einen Tisch am Fenster.
     
    Es könnte das letzte Mal sein, sagte ich – das Fler geht demnächst pleite oder wird an irgendeinen Döner-Papa verkauft …
    Macht nichts, sagte Leiser.
    Tja, unsere früheren Spielplätze … die wandeln sich zum x-tenmal … jede Menge neue Restaurants am alten Roten Platz, die Pizzeria, der Sushi-Laden, die Thai-Küche – und alles fest in türkischer Hand.
    Wer’s am Winterfeldtplatz schafft, gehört dazu …
    … und wer da draußen am grünen, villenreichen Ostrand lebt, kann leicht reden …
    … Verschon mich mit deinem Multikulti-Gejammer, sagte Leiser, du glaubst doch nicht, daß es angenehmer ist, da draußen Garten an Garten mit alten DDR -Kadern oder Stasileuten als Nachbarn zu wohnen …
     
    Zu meinem Erstaunen – und im Unterschied zu sonstigen Treffen – war zunächst er es, der Redebedarf hatte. Es ging um seinen jüngsten Roman, das heißt, um die für einen Leiser-Roman erstmals recht durchwachsenen Reaktionen der Medien, der Kritiker. Bei den vorhergegangenen, mit Elogen bedachten fünf, sechs Büchern hatte er nach meiner Erinnerung nicht ein einziges Wort über die traumhaft positiven Rezensionen in der Presse verloren. Im Fall der Neuerscheinung wurden ihm jetzt Mangel an

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