Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Empfindsamkeit und echtem Interesse an seinen Figuren vorgeworfen … von sexueller Spekulation gar war hier und da zu lesen … Maximal neun Seiten von insgesamt zweihundertachtundsechzig können damit gemeint sein, rechnete er vor – während ich vorsichtig einwendete, es gebe durchaus Bücher, bei deren Lektüre man dauernd in Richtung des einen dächte, obwohl etwas anderes dort schwarz auf weiß stünde … aber bitte, bitte. All die Jahre schien er absolut gleichgültig gegenüber dem eigenen Erfolg – quasi stellvertretend hatte ich die ihn betreffenden Presseartikel gesammelt. Und jetzt wurde mir zum ersten Mal klar, daß er sämtliche Rezensionen kannte und offenbar auch archivierte – bis hin zur entlegensten Radiokritik. Im Gespräch darüber dauerte es eine Weile, bis wir auf die bei mir anstehenden Probleme einschwenkten.
Und hat sie sich inzwischen mal gemeldet? fragte Leiser.
Nein, warum auch, sagte ich, sie ist gegangen, wie schon andere vor ihr … Sie ist ja so ein kleistisches Wesen, ein Unglück zieht das nächste nach, zuerst den Job verloren, dann das Auto weggeknallt, die Tochter ging nach München und sie selbst ist wohl zurück aufs Land, einigermaßen down, zur Verwandtschaft, zu ihren Petersilie häckselnden Ehezwillingen …
An deiner Stelle würd ich mir das alles noch mal überlegen.
Okay, mach ich …
Dir bleibt doch gar nichts anderes übrig … sei doch froh … in deinem Alter, zweiundsechzig … dreiundsechzig …
Wie schön, daß du mich darauf hinweist – du bist ja Spezialist für Liebesfragen, wie in deinem Buch zu lesen ist, auch mit diesem Aphorismus auf Seite 176 , 178 … wehe dem, der im Alter auf den Schutz der Liebe verzichten muß … ja, wehe dem Zweiundfünfzigjährigen, der vielleicht demnächst auf eine oder gar beide seiner Geliebten verzichten muß … wehe dem Neugeborenen, das im Alter von vier Wochen schon auf den Schutz der Liebe verzichten muß … Neinnein, ich bin nicht frauenfeindlich, meine Mutter wird schon gewußt haben, was sie tat, klar, und meine Freundin Ella, kein so weiter Sprung, wußte das sechzig Jahre später auch, als sie mir sagte, wenn du mich wegschickst, alter Mann, dann bleibt dir nur noch der Weg ins Bordell …
Na ja, sie übertreibt’s mit der Härte, wahrscheinlich wie du auch.
Der Satz allein reicht, um sie nie wieder anzurufen.
Und was sollte das mit deiner Mutter?
Ach shit, sagte ich … die drei Tage bei meiner Mutter …
Schöner Titel, sagte Leiser.
Schöner Mist … diese Reise, von der ich ihm ausführlicher erzählte, die verwirrenden Geschichten von dem hin und her geschobenen Baby, von der Bauersfrau, von Buchenwald und den dort angeblich umgekommenen Brüdern meiner Mutter, nach denen ich noch immer im Netz fahndete. Da wäre einiges über mein Leben herausgekommen, neue, überraschende Erkenntnisse über die Folgen meines Geburtsdramas, späte, womöglich zu späte Erklärungen für meine unstete Existenz, für das unheilbare Rumtreibersyndrom, den Verzicht auf alles Familiäre, für eine gewisse Unfähigkeit im Umgang und das sehr, sehr karge Urvertrauen überhaupt, dieses ewige innere Opponieren gegen alles Gesellschaftliche … und darüber hinaus.
Guten Glaubens zählte ich die unverschuldet schicksalsübereigneten Handicaps auf, bis Leiser mich unterbrach.
Übertrieben, alles übertrieben, sagte er – du versuchst doch nur, deinen verkorksten Lebensstil zu entschuldigen, deine über Jahrzehnte durchgezogene serielle Monogamie schönzureden, dein Denken … ist gar nicht dein Denken, es folgt nach wie vor den alten Mustern … alles Blödsinn … deine Familienphobie hier historisch mit Nachkrieg und den wilden Zeiten zu erklären, sich auf irgendein Rebellentum zu berufen, nee … du bist ein verbohrter Romantiker, ein Selbstverschleierer, der hundert Kommentare in korrektem Radiosprech verfaßt, und trotzdem noch immer dieser Theatralik von Achtundsechzig ff. nachhängt …
… und den Virus nicht zu vergessen, den ich mir damals eingefangen hab und bei dem nach wie vor unklar bleibt, ob er wirklich verschwunden ist – diese DDR -Ärztin meinte ›ein großes Ja mit einem kleinen Aber‹, vielleicht kehrt er ja bald zurück, mein alter 68 er Virus, wer weiß …
… auch die Spuren der Drogen verlieren sich früher oder später im Unendlichen … und was darüber hinaus gewesen sein sollte … das sogenannte Radikale …
… Jaja, ist ja gut, sagte ich, wir 68
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