Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
hinteren Ende war ein mehrstöckiges Wirtschaftsgebäude zu sehen und auf halber Strecke ein mir klein vorkommender, erst nach kurzem Nachdenken als Krematorium erkannter Bau, beide aus Stein.
Aber war der Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers, eine Besichtigung dieser Rest-Bauten, angesichts der generellen Aburteilung der Nazizeit überhaupt noch nötig? Hier angekommen, widerstrebte es mir paradoxerweise, all die zur Verfügung stehenden Dokumente genauer zu betrachten, jede grauenerregende Einzelheit, jedes ausgestellte Instrument anzukucken … Wozu? Für den gesamten Komplex gab es keine neuen Gedanken.
Die Bauten, der äußere Rahmen überhaupt, dienten nur als Gedächtnisstützen. Das Vorwissen blieb wesentlicher – vor allem das Angelesene, die hunderte Seiten Buchenwaldprosa, die Bücher von Kertesz, Hessel, Apitz und Eugen Kogon, deren Lektüre das Lagerleben zu Teilen vorstellbar und unvergeßlich werden ließ. Was hatte ich nicht alles gelesen über den sogenannten Typhus-Block, alle schrieben darüber, erzählten von einer Baracke, in der sich wegen der dort drohenden Todesgefahr die Chance zur Lebensrettung eröffnete, weil die SS -Bewacher um diese Krankenstation einen großen Bogen machten. Bereits als Kind mußte ich darüber Genaueres gelesen haben, mit neun oder zehn Jahren, in einem Buch, das mir mein Vater schenkte. »Arztschreiber in Buchenwald« hieß es, das vielleicht erste und heute verschwundene Buch über diesen Ort, ein Geschenk der frühen Fünfziger … Ein halbes Jahrhundert später erinnerte ich nur noch das undeutliche Gefühl, es als abenteuerlichen, wegen des unvorstellbaren Geschehens faszinierenden Roman gelesen zu haben.
Ein eindeutig zu früh gekommenes Geschenk, meinte Ella dazu – mit neun Jahren kann ein Kind das wohl kaum verstehen …
Ich versteh’s bis heute nicht, antwortete ich – aber allein die Tatsache, daß der Vater mir dieses Buch zu lesen gab, dürfte die Lächerlichkeit der Anschuldigung gegen ihn beweisen …
Der Rosenkrieg eines Flüchtlingsehepaars – da ging’s um die Gesinnung, nicht um die Kronleuchter …
Ob meine Mutter überhaupt wußte, was in Buchenwald passierte – nur wenige Kilometer von ihrem Wohnort entfernt? Wie es dort aussah und zuging – im Frühjahr 1945 ? Ohne Filme und Bilder zu kennen, nur aufgrund von Gerüchten – wobei sie vielleicht eher den im Dorf sicher kursierenden Verharmlosungen glaubte, was mögliche Konsequenzen ihrer Denunziation auch harmloser erscheinen ließe? In dem Zusammenhang erzählte ich Ella von einem oft gesehenen Ausschnitt aus den vielen oft gesehenen Dokumentarfilmen, der mir besonders präsent war – derjenige, in dem amerikanische Soldaten unmittelbar nach der Befreiung des Lagers hunderte Einwohner von Weimar zwangen, dort hindurchzugehen, die große Zahl der Verstorbenen, Todkranken, fast verhungerten Häftlinge anzuschauen, deren Zustand sie sich offenbar so nicht hatten vorstellen können oder wollen … Weimarer Bürger, Kaufleute, Beamte, wie es hieß, in Gehröcken, ihre Gattinnen in schwarzen Kostümen mit Fuchspelzen über den Schultern, junge Frauen mit schwungvollen Frisuren wie Ufa-Stars der vierziger Jahre, alle pumperlg’sund und gepflegt aussehend, als hätte es bei ihnen weder Krieg noch KZ gegeben – das KZ , das sie nun entdecken mußten und beweinten, die Gesichter gegen das ungeahnte Grauen unter Taschentüchern versteckend, jeder einzelne erschüttert in der langen Besucher-Schlange, die sich immer eiliger durch das Zentrum ihres Entsetzens bewegte, um zu entkommen – keine nach Arbeitern aussehenden Leute, keine schlechtgekleideten Flüchtlinge dabei.
Sie war’n über diese unmöglichen Amerikaner entsetzt, hatte Ella dazu gesagt, wegen deren Zumutung, sich das unter Zwang ankucken zu müssen – die Weimaraner wußten doch, was da passierte.
Aber das, was diese völlig verstörten, weinenden Frauen dort sahen, sahen sie zum ersten Mal …
Ja, verstört war’n sie, diese Frauen, entsetzt und allein gelassen von ihren Ehemännern, Verlobten oder Vätern, die sich vor dieser Besichtigungsfahrt irgendwo vor den GI s versteckt hielten – aus Angst, daß daraus noch mehr werden könnte … tolle Männer …
Ach, Ella.
Wir waren dann etwas planlos durch die Mitte und von einer Seite zur anderen spaziert. Auf dem Weg erzählte ich Ella einiges von dem, was mir durch den Kopf ging – daß Buchenwald kein Vernichtungslager war und trotzdem
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