Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Verdächtigungen, der falschen Anschuldigungen der Frau Mama, genug vom okkulten Mist der Kartenlegerei, die offenbar Anfang und Ende meines Lebenswegs mitbestimmte, genug auch vom spekulativen Gerede über die mickrig entwickelten Spiegelneuronen eines früh weggelegten, dem Nichts überlassenen Säuglings, über die mangelhaft gereifte Fähigkeit zum Mitgefühl, zur Bindung überhaupt – und niemand mehr da, der die Dinge zurechtrücken könnte …
Dann bade schön weiter in deinem Selbstmitleid, hatte Ella mir noch hinterhergerufen, ehe sie davonfuhr.
Wie gewohnt, schaute ich später am Abend nach neuen E-Mails und versuchte auch, die Webseite der Gedenkstätte Buchenwald zu lesen. Sie war offensichtlich von außen gestört … ein gelistetes holländisches Portal mit Namen von Verstorbenen und eine Seite namens »Buchenwald.Das Totenbuch.de« dagegen nicht. Trotz der Überzeugung, daß meine Mutter ihre Denunziation erfunden hatte, begann ich, in diesem Totenbuch zu lesen, es schließlich gezielt zu durchforsten … schwer zu sagen, warum – ein längst Gewohnheit gewordener Reflex vielleicht, die nun mal vorhandenen, informellen Präzisierungsinstrumente zu nutzen … und in diesem Fall eine alphabetisch geordnete Aufzählung relativ zügig zu überfliegen. Beim Erreichen des gesuchten Buchstabens packte mich augenblickliches Entsetzen, als sich in der elendig langen Namensliste der Opfer zwei Männer mit dem seltenen Mädchennamen meiner Mutter fanden … ein gewisser René und ein Roger. Ihre Geburtsorte und ihr Alter ließen alles offen, auch die Vermutung, daß es sich um die Brüder meiner Mutter handeln könnte – eine Vorstellung, die mich vollends verwirrte und noch tiefer ins Netz scheuchte. Mit den neugefundenen Namen der beiden ging ich auf die Suche nach schlüssigen Hinweisen auf ihre familiäre Zugehörigkeit, auf eventuelle verwandtschaftliche Querverbindungen, auf ihr gelebtes Leben vor dem Tod … immerhin das Leben von zweien meiner möglichen, wenn auch ungekannten, leiblichen Onkel, deren Fotos, deren Häuser oder was immer ich gerne einmal gesehen hätte … Bis mir bewußt wurde, daß dieser Suche nach sechs Jahrzehnten nicht nur im Netz natürliche Grenzen gesetzt waren … Über die damaligen Vorgänge gab es keine letzte Klarheit. Wessen Taten oder Untaten tatsächlich zum Zerbrechen der Familie geführt hatten, würde im Ungewissen bleiben.
K omm ins Bett, hatte ich durch die offene Schlafzimmertür in Richtung Küche gerufen und auf eine Antwort oder Reaktion gewartet – vergeblich. Ein paar Minuten später rief ich etwas variiert und weicher betont, Ella … komm doch ins Bett, ohne im geringsten zu ahnen, daß dies einer der letzten an sie gerichteten Sätze gewesen sein könnte. Offenbar verharrte sie stumm und bewegungslos auf ihrem Küchenstuhl – nichts Ungewöhnliches bei ihr, diese demonstrative Form der Nachdenklichkeit nach einer für sie ungelösten Konfliktsituation. Im Grunde bestrafte sie mich dafür, unsere Diskussion nach einer erneut zügellosen Männer-Philippika abgebrochen und den Raum verlassen zu haben. Mir fiel dazu nichts mehr ein, außer mich ratlos und mit der zugegebenermaßen schlichten Erwartung aufs Bett zu legen, Ella würde in überschaubarem Abstand folgen.
Doch erst mal passierte nichts. Ich lag angezogen auf meinem superbreiten Bett, sah das schummrige Licht hinter der halbverglasten Küchentür, wo Ella weiterhin saß – in der Schmollecke, wie ich das in früheren Zeiten zu nennen bereit gewesen wäre … So ein Heimabend mit der Freundin barg eben große Risiken, das von ihr permanent gewünschte Auswärtsessen allerdings auch. Das manchen Leuten den Tag krönende Gehocke in irgendwelchen Restaurants gefiel mir wenig – vor allem das dort rundum zu beobachtende, oft verlegen gestreckte Nullsprech-Gemurmel allein sitzender Pärchen … Schon immer eine von mir gefürchtete Situation, diese Isolation zu zweit inmitten von Orten scheinbarer Geselligkeit, in der mir überdies die deprimierende Überlegung aufgezwungen wurde, was alles anderes ich während dieser Zeit lieber getan hätte … Bei uns beiden konnte sich häufig genug bereits vorm Dessert eine nur schwer unterdrückbare, Stunden anhaltende Mißstimmung entwickeln. Ohnehin fand ein Paar nach meinem Geschmack viel umstandsloser zueinander, wenn es nicht eingelullt vom Essen in domestizierter, ausgelutschter Atmosphäre, sondern geistig abgekämpft aus einer
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