Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
fünfzigtausend Menschen hier starben, daß es Sonder-Gefangene wie Fürstinnen und Ex-Minister in Sonder-Baracken gab, und daß in den letzten beiden Jahren die Häftlinge das Lager eigenständig leiteten – eine Crux, ein Streit, bis heute ungelöst, da die Kommunisten die Macht ergriffen und ihre Leute vor dem Abtransport in die Todeslager bewahrt hätten … angelesenes Geschichtswissen, was sonst; die Existenz des Häftlingsbordells mit zwangsverpflichteten, meist jüdischen Frauen ließ ich wegen der erwartbaren Reaktion Ellas lieber weg. Höchstwahrscheinlich wäre einer ihrer Haßausbrüche gegen bordellbesuchende Männer, gegen Männer im allgemeinen und letztlich gegen mich als insgeheim puffaffinen Mann fällig gewesen – das Argument, daß jene, die Rotlicht-Baracke nutzenden Häftlinge deshalb von anderen Lagerinsassen verachtet und bekämpft wurden, hätte gegen Ellas Furor wohl nichts ausgerichtet.
Die jüngste, erst vor kurzem gefundene Lesefrucht aus der Geschichte Buchenwalds ließ ich dagegen nicht weg. Sie hatten einen Zoo hier, einen kleinen Zoo mit verschiedenen wilden Tieren, sagte ich, als wir bereits auf seinen ursprünglichen Platz zuhielten – in der vom Eingang aus rechten äußeren Ecke waren die Reste am Zaunrand tatsächlich zu sehen, eine ausgehobene, von einem Wall umgebene Grube, das vormalige Bärengehege.
Das wollte Ella nicht glauben.
Doch, doch – der Gründer, ein Kommunist namens Franz Ehrlich, Bauhäusler sogar, war hier zunächst zwei Jahre Gefangener und arbeitete nach der Entlassung von draußen als bezahlter Architekt, angeblich auch der Schöpfer des Mottos am Eingangstor, »Jedem das Seine«.
Das ist ’ne Übersetzung aus dem Lateinischen, ein Philosoph, komm jetzt nicht auf den Namen von dem, meinte Ella – war aber bestimmt nicht für so was hier gedacht.
Dieser Ehrlich hatte ein Faible für gut gemachte Schilder – am Zaun des Geheges hing auch eins: »Jedes Leid ist von den Tieren fernzuhalten«.
Die Rückreise nach Berlin verlief zunächst ziemlich schweigsam. Ella fuhr. Für sie war Autofahren eine ganzheitliche Tätigkeit, die ihre Stimmung zu stabilisieren vermochte – beneidenswert, wie ich fand, sich auf so einfache Weise abregen zu können. In Buchenwald hatten wir zuletzt noch das Krematorium besichtigt. In dessen hinterem Raum waren in einer Reihe fünf oder sechs gemauerte Verbrennungsöfen zu sehen, alles sauber und intakt belassen, als sollte die sofortige Betriebsbereitschaft angedeutet werden – die eisernen Ofentüren standen halb offen. Auf dem Weg dorthin, wie auch im kleinen Gewölbe im Eingangsbereich, hingen unterschiedlich gestaltete Namensschilder von hier Verstorbenen an der Wand, hunderte Namen von Häftlingen aus allen möglichen europäischen Ländern. Ich begann unwillkürlich, sie zu lesen, einen nach dem anderen, mit den Widmungen kondolierender staatlicher Stellen und Institutionen.
Ob ich denn die Namen der beiden Onkel kennen würde, hatte mir Ella während der Lektüre zugeflüstert.
Ja und nein, erklärte ich ihr, zwei Namen hat mein Vater irgendwann mal erwähnt, Onkel Amadeus und Onkel Nikolaus, sehr wandelbare Namen, Onkel Medé, Onkel Nico, Onkel Klaus oder einfach Nickel – aber meine Mutter hatte noch mehr Brüder, zwei weitere mindestens, von denen ich nichts Genaueres weiß … woher auch, in einer mit meiner späten Geburt weiträumig auseinandergerissenen, ohne jeden Kontakt getrenntlebenden Familie … keine Ahnung.
Ja und – hast du die Namen der beiden etwa entdeckt?
Wieso sollte ich …
Als ich beim Abschied vor meiner Haustür versucht hatte, unsere nächste Verabredung um einige Tage hinauszuschieben, war der leicht aggressive Unterton in Ellas Stimme nicht zu überhören – die Aussicht, sich für kurze Zeit trennen zu müssen, schien sie einmal mehr mit mir übertrieben vorkommender Schwere zu treffen.
Ach Aljoscha, sagte sie, was du nicht alles weißt …
Diesen Kosenamen gebrauchte sie, wenn sie sich ironisch geben wollte, aber bereits schwer verärgert war.
… und doch wieder tagelang nichts von dir hören lassen wirst, dein dauerndes Sichentziehen, dieses Abtauchen ist auch eine Form von Sadismus, von Verrat …
Ist es nicht, sagte ich, es ist nur das Besorgen von etwas Zeit, die ich für mich brauche.
Drei Tage in Erfurt, dachte ich, drei Tage im Schoß der Familie, im Ruch meiner Mutter – ziemlich finstere Tage, Tage der größten Konfusion … Genug der
Weitere Kostenlose Bücher