Gwydion 02 - Die Macht des Grals
warf einen Blick auf den Fremden, der nun wieder so friedlich dalag, als schliefe er. „Ohne ihn hätte ich mich nicht auf den Weg gemacht. Er wäre sonst gestorben.“
„Das wäre er mit Sicherheit“, erwiderte Merlin und steckte die kleine Flasche wieder zurück. „Darf ich fragen, warum dir so an seinem Leben liegt?“
Gwyn schwieg einen Moment. Es war in der Tat mehr als nur reine Anteilnahme gewesen, die seine Hilfsbereitschaft geweckt hatte. „Er hat mich an Humbert erinnert. Seit seinem Tod habe ich das Gefühl, eine Schuld abtragen zu müssen“, sagte er. Die Sache mit dem Gral wollte er vorerst für sich behalten.
„Ja, unser Gewissen ist ein schrecklicher kleiner Teufel“, sagte Merlin und durchbohrte ihn mit seinen Raubvogelaugen. „Es treibt uns immer wieder zu überraschenden Taten. Wo hast du ihn gefunden?“
„Zum ersten Mal habe ich ihn am Ufer des Sees gesehen, in dem ich beinahe ertrunken wäre“, sagte Gwyn, der sich fragte, ob Merlin nicht bereits wusste, was ihm in Redruth widerfahren war.
„Der See, in dem du die denkwürdige Begegnung mit dieser geheimnisvollen Dame hattest?“, fragte der alte Mann.
Gwyn nickte. „Er hatte sich im Gebüsch versteckt.“
„Hat er dich bedroht?“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte er langsam. „Immerhin sieht er ziemlich wild aus.“
Merlin untersuchte das Gesicht des Mannes etwas genauer. „Hm, er könnte in der Tat eine Rasur vertragen. Nun, wie dem auch sei: Wir müssen zurück nach Camelot. Nur dort kann ich herausfinden, was ihm so sehr zu schaffen macht.“
Gwyn stieg in den Sattel und gab Pegasus den Befehl, sich in Bewegung zu setzen. „Habt Ihr die Verfärbung der Zunge bemerkt?“
„Es gibt viele Gifte, die sie hervorrufen kann. Noch ist es zu früh, etwas dazu zu sagen, und ich spekuliere nicht gerne.“
Gwyn runzelte die Stirn. „Ich frage mich nur, wer der Mann ist.“
„Hast du es noch nicht erraten?“, fragte Merlin mit einem seltsamen Lächeln. „Es ist Lancelot, Arturs erster Ritter.“
Auch wenn er Gwyn mittlerweile vertraut war, so raubte ihm der Anblick der Türme von Camelot im Licht der untergehenden Sonne den Atem. Während ringsum das Land nach dem Abzug der Römer immer mehr dem Verfall preisgegeben war, erhellte diese Festung wie ein Leuchtfeuer die finsteren Zeiten, die nun angebrochen waren. Alles verfiel, nichts wurde bewahrt oder gar neu gebaut. Nur Arturs Reich stemmte sich gegen das heraufziehende Chaos, das schon den Rest des Landes erfasst hatte.
Als sie den kleinen Wald hinter sich gelassen hatten und nun den schmalen Weg zum Tor hinaufrumpelten, sahen sie eine Schar Männer, die die Befestigungsanlagen ausbesserten, die während Mordreds Angriffs zerstört worden waren. Einige von ihnen hielten bei Gwyns Anblick mit der Arbeit inne und schauten zu ihm hinüber. Als sie ihn erkannten, ließ der älteste von ihnen seine Hacke fallen und rannte zum Burgtor hinauf.
Merlin musste schmunzeln, als er sah, wie Gwyn nervös auf seinem Sattel hin und her rutschte. Eilig wurde das Tor geöffnet und der Karren rumpelte in den Hof. Als die Wache vor ihnen salutierte, lief Gwyn ein Schauer den Rücken hinab. Er erinnerte sich noch daran, wie er zum ersten Mal um Einlass gebeten hatte und von derselben Wache, die nun vor ihm stramm stand, auf höchst demütigende Weise vertrieben worden war.
Im Inneren der Burg waren die Aufräumarbeiten fast beendet. Der innere Befestigungsring, der dem Angriff von Mordreds Männern standgehalten hatte, war wieder abgetragen worden. Vom alten Badehaus standen nur noch einige klägliche Mauerreste und große Teile des Fundaments. Hinter den Stallungen sortierten Männer den angefallenen Bauschutt. Steine und Balken, die noch verwendet werden konnten, schichteten sie zu zwei Stapeln auf, während der mit Mörtel vermischte Rest über eine Seilwinde hinauf zur beschädigten Mauerkrone gezogen wurde. Gwyn stellte überrascht fest, dass unter den Arbeitern auch einige Sachsen waren, die es offensichtlich vorgezogen hatten, sich auf die Seite der Sieger zu stellen. Er sah sich nach den Knappen um, konnte sie aber nirgends entdecken.
„Sir Galahad ist mit Rowan und den anderen zu einem Nachtritt aufgebrochen“, sagte Merlin, der Gwyns Blick bemerkte. „Vermutlich werden sie am frühen Morgen wieder zurückkehren.“
Gwyn ließ sich aus dem Sattel gleiten. Auf den Stufen zum Hauptportal sah er einige Ritter beisammenstehen, unter ihnen auch Sir Kay, der die anderen
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