Gwydion 02 - Die Macht des Grals
wenig Schatten spendete. Dennoch kam er nicht so schnell voran, wie er gehofft hatte. Immer wieder musste er anhalten, um dem Mann etwas von Do Griflets Sud einzuflößen. Außer der Medizin und dem dünnen Haferbrei, den Gwyn mit Wasser anrührte, behielt der Kranke nichts bei sich.
Glücklicherweise mussten sie die Nächte nicht auf freiem Feld verbringen, dafür sorgte sein Waffenrock mit dem roten Drachen. Die Bauern ließen die beiden in ihren Katen schlafen, während die Familien für eine Nacht zu den Tieren in den Stall zogen. In einigen Fällen kümmerte sich sogar die Bäuerin um das Wohlergehen des Kranken. Am Morgen teilten sie ihr kärgliches Frühstück mit ihm. Zunächst hatte Gwyn deswegen ein schlechtes Gewissen, da ihre Gastgeber jede Art von Bezahlung stets entrüstet ablehnten, doch er beruhigte sich damit, dass es für den Kranken, dessen Fieber wieder ausgebrochen war, das Beste war.
Schon als er Camelot verlassen hatte, war Gwyn die geradezu unterwürfige Ehrerbietung aufgefallen, mit der ihn die einfachen Leute behandelten. Auch jetzt hätte er alles verlangen können und hätte es wohl auch bekommen, obwohl die meisten in bitterster Armut lebten. Wenn Artur wirklich ausgezogen war, die Ungerechtigkeit in der Welt zu bekämpfen, dann war er nicht sehr weit gekommen.
Am Abend des dritten Tages ging der Kräutervorrat zur Neige und das Fieber begann wieder zu steigen. Obwohl es ein halsbrecherisches Unternehmen war, entschloss sich Gwyn, auch die Nacht durchzureiten. Glücklicherweise war Vollmond, sodass er die größten Hindernisse rechtzeitig erkennen konnte. Dennoch kam er zwei oder dreimal so gefährlich vom Weg ab, dass er beinahe mitsamt Pferd und Wagen eine tiefe Böschung hinabgestürzt wäre.
Als der Morgen graute, verschlechterte sich der Zustand des Mannes dramatisch. Stöhnend warf er sich hin und her, riss die Augen auf und schrie, als ob er die schlimmsten Qualen durchlitt. Sie waren noch eine gute Tagesreise von Camelot entfernt, und er bezweifelte mittlerweile ernsthaft, dass der Mann König Arturs Burg lebend erreichen würde.
Plötzlich verwandelten sich die Schreie in ein gepresstes Würgen. Gwyn drehte sich um und sah entsetzt, dass der Mann purpurrot angelaufen war und die Augen wie zwei Kugeln aus den Augenhöhlen traten. Die Hände waren zu zwei Vogelkrallen verkrampft und Schaum gurgelte aus seinem Mund.
Panische Angst überkam Gwyn. Er ließ die Zügel fallen und versuchte den Mann aufzurichten, der nun steif wie ein Brett war.
„Nein!“, rief Gwyn verzweifelt und zerrte hilflos an seiner Schulter. „Stirb nicht! Wir sind doch bald da, dann kann dir geholfen werden!“ Und weil der Mann nicht reagierte und Gwyn nichts Besseres einfiel, begann er laut um Hilfe zu schreien.
„Es ist gut, Gwydion“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich sagen. „Ich glaube fest, dass er es schaffen wird.“
Gwyn wirbelte herum und sah sich einem alten, bärtigen Mann mit scharfen Gesichtszügen gegenüber, der in einen langen, tiefblauen, fast schwarzen Mantel gehüllt war und einen großen Beutel in der Hand hielt.
„Merlin?“, stotterte Gwyn. „Aber… wo kommt Ihr denn auf einmal her?“
Der Ratgeber des Königs kletterte erstaunlich leichtfüßig auf den Karren und beugte sich über den Mann, dessen Gesichtsfarbe jetzt von Purpur zu Blau gewechselt hatte.
„Nach dem strengen Winter bin ich um jeden Tag froh, der mir erlaubt, der Enge Camelots zu entfliehen. Da bin ich nicht anders als die Prinzessin“, sagte er. Prinzessin Aileen war berüchtigt für ihre heimlichen Ausflüge außerhalb der Burgmauern. Merlin untersuchte eingehend die Augen des Mannes, dann nahm er den leeren Beutel, in dem Do Griflet die Kräuter verwahrt hatte, und schnupperte daran. Merlin runzelte die Stirn und dachte einen Moment nach. Dann holte er aus den Tiefen seines Beutels eine kleine Flasche und träufelte einige Tropfen auf die zusammengepressten Lippen.
Fast augenblicklich entspannten sich die Gesichtszüge des Kranken und er riss den Mund auf, um gierig Luft in die Lungen zu saugen. Das Zittern ließ nach und das Gesicht nahm langsam wieder eine natürliche Farbe an.
„Es ist dasselbe Mittel, das du ihm auch gegeben hast, nur in einer vielfach höheren Konzentration. Wer immer dir diese Kräuter gegeben hat, er versteht sein Handwerk.“ Merlin lächelte Gwyn breit an. „Es freut mich, dass du deine Meinung geändert hast und wieder nach Camelot zurückkehrst.“
Gwyn
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