Gwydion 02 - Die Macht des Grals
fast um eine halbe Haupteslänge überragte. Als sie Merlin und Gwyn entdeckten, unterbrachen sie ihr Gespräch augenblicklich und eilten zu ihnen herüber.
Sir Tristan strahlte über das ganze Gesicht, als er Gwyn begrüßte. „Was für eine Überraschung! Der verlorene Sohn ist wieder heimgekehrt!“ Er streckte seine Hand aus, die Gwyn mit Stolz ergriff, denn er sah, dass die Freude des hoch gewachsenen Mannes mit den traurigen Augen echt war. Auch Sir Belvedere und Sir Gawain schlugen ihm auf die Schultern, einzig Sir Kay ließ sich zu keiner Gefühlsregung hinreißen und warf Gwyn nur einen scharfen Seitenblick zu. Etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit. Er ging um den Karren herum und starrte auf die leblose Gestalt, die schwer atmend im Stroh lag.
Nun traten auch die anderen Ritter näher. Sir Tristan riss erschrocken die Augen auf. „Oh mein Gott“, flüsterte er. „Lancelot!“
Sir Belvedere runzelte die Stirn und schaute genauer hin. „Himmel, Ihr habt Recht!“
„Helft mir, ihn in meinen Turm zu tragen. Gwyn, du kommst mit“, sagte Merlin, als er sah, wie der Junge das Pferd ausspannen wollte. „Um Pegasus kann sich auch jemand anders kümmern.“
„Was hat Gwyn mit Lancelot zu schaffen?“, fragte Sir Kay und Gwyn glaubte, etwas von der alten Feindseligkeit in seiner Stimme zu hören.
„Das würde ich auch gerne wissen“, sagte Merlin. „Immerhin hat Sir Lancelot den Jungen durch halb Cornwall verfolgt.“
Sir Tristan schaute Gwyn überrascht an. „Und er hat nicht gesagt, was er von dir wollte?“
„Nein, er war kaum zu verstehen, das Fieber hatte ihn zu sehr geschwächt. Nur einmal klagte er darüber, dass er den Gral verloren habe, obwohl er ihn fast in den Händen hielt.“
Die Ritter starrten ihn ungläubig an.
„Du hast Recht. Lancelot muss verwirrt gewesen sein, als er das sagte“, stellte Sir Kay kühl fest.
„Außerdem machte sich Lancelot heftige Vorwürfe“, fuhr Gwyn unbeirrt fort. „Er sprach von einem König, den er nicht nach seinen Wunden gefragt hatte.“
Sir Belvedere war mittlerweile auf den Wagen geklettert und packte den ohnmächtigen Lancelot unter den Armen, während Sir Gawain die Beine ergriff. Gemeinsam hoben sie ihn herunter und trugen ihn hinauf in die Gemächer des königlichen Ratgebers.
„Legt ihn auf mein Bett“, sagte Merlin und holte aus einer Truhe eine Kiste, die voller kleiner Flaschen, angefüllt mit Wässerchen und Tinkturen, war. Schweigend traten die Ritter beiseite und schauten dem alten Mann zu, wie er zuerst Lancelot genauer untersuchte und dann verschiedene von den Flüssigkeiten in genau bemessenen Mengen in eine Schale gab und sie umrührte.
„Richte seinen Oberkörper auf“, wies er Gwyn an und benetzte mit der grünen Flüssigkeit Lancelots Lippen. Zunächst geschah nichts. Dann, nach einigen Augenblicken, regte sich Leben in dem blassen Gesicht und der Mund öffnete sich. Gwyn stützte den Kopf ab und hob ihn noch ein wenig höher. Merlin setzte die Schale an, woraufhin Lancelot in kleinen Schlucken das Gefäß leerte. Mit einem Seufzer ließ er sich zurück auf sein Lager fallen. Er hustete leise, als hätte er sich verschluckt, dann schlug er mit flatternden Lidern die Augen auf.
„Merlin“, sagte er lächelnd, als er das Gesicht des alten Mannes sah, der sich über ihn gebeugt hatte. Das Sprechen fiel ihm noch schwer, doch sein Geist schien wieder wach zu sein. „Also bin ich nicht weit gekommen.“ Lancelot schloss die Augen wieder.
„An was könnt Ihr Euch erinnern?“, fragte Merlin, dem die verwirrten Blicke der anderen nicht entgangen waren.
„An meinen Abschied. Und dass ich in Cadbury Humbert von Llanwick getroffen habe“, sagte er matt. „Wir wollten gemeinsam weiterreiten, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir aufgebrochen sind. Wo ist er? Was ist geschehen?“
„Humbert von Llanwick ist tot“, sagte Merlin.
Lancelot blinzelte überrascht. „Aber das ist unmöglich. Ich habe ihn doch heute noch gesehen.“
„Sir Lancelot, Euer Abschied liegt vierzehn Jahre zurück“, sagte Merlin ruhig.
„Ihr scherzt!“, sagte Lancelot und lachte heiser. „Es kann sein, dass ich gestern Abend vielleicht ein wenig zu sehr dem Wein zugesprochen habe, aber deswegen vergesse ich doch nicht dreizehn Jahre meines Lebens.“
Merlin verzog keine Miene, als er Lancelot einen Spiegel in die Hand drückte.
Beim Anblick seines Spiegelbildes strich sich der Ritter mit zitternder Hand über den
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