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H2O

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Titel: H2O Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patric Nottret
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war.

46
 
 
 
    Vor dem auf einem Stativ angebrachten Makroobjektiv hielt Morel, unangefochtener Leiter des Instituts für Kriminal-Entomologie, den Zinken einer Stimmgabel an das Netz einer Spinne, die sich im Blattwerk des Terrariums verbarg.
    Über den Glaskasten gebeugt, die riesige Brille auf der Nase, den Rücken in einem drolligen Winkel zu seinen dürren Beinen gekrümmt, entging ihm das höhnische Grinsen eines seiner Studenten, der sich auf seinem Stuhl umgedreht hatte, um an dem Schauspiel teilzuhaben.
    Der Professor murmelte jetzt in das Terrarium hinein:
    »Los, Cruella, raus da, verdammt noch mal, lass dich porträtieren!«
    Plötzlich klingelte das Telefon, worauf Morel vor lauter Schreck die Stimmgabel über dem Netz losließ. Das große tropische Spinnentier, das sich endlich entschlossen hatte, die Vibration der Stimmgabel mit dem Summen einer in die Falle geratenen Mücke zu verwechseln, flüchtete, so schnell es seine acht Beine trugen, hinter einen Zweig.
    Der Professor hielt seine Armbanduhr vor die Brille, als wollte er sie sich ins Auge stoßen. Dann hob er ab.
    »Professor Morel? Hier Inspektor Sénéchal ...«
    »Monsieur Sénéchal? Was verschafft mir die Ehre? Ach ja, ich habe Ihre Fotos erhalten.«
    »Professor Morel, ich meine Ihrem entomologisch-jovialen Tonfall entnehmen zu können, dass Sie gute Nachrichten für mich haben.«
    »Gute Nachrichten? Von wem?«
    »Von meinem Skarabäus, Professor.«
    »Ihrem Skarabäus? Welchem Skarabäus? Ach, ja, ja ... Es ist ein Weibchen.«
    »Sehr gut ... Und ist das alles?«
    »Ahm, nein ... Was sind das für Geräusche bei Ihnen im Hintergrund?«
    »Ich bin am Flughafen. In Malaysia. Ich fliege zurück nach Réunion.«
    »Sie jagen mich ja ganz schön durch die Weltgeschichte. Dieser kleine Koleopter, den Sie gefunden haben, Monsieur Sénéchal, heißt Stenocara. Es ist ein Tenebrionid ... Als Gott die Welt erschuf, scheint er eine besondere Vorliebe für Skarabäen gehabt zu haben, denn er hat Tausende von Arten kreiert.«
    »Er hätte es wohl besser dabei bewenden lassen sollen. Gut, und dieser Stenodingsbums ... ist das alles, was Sie herausgefunden haben?«
    »Warum Sie den in Indonesien gefunden haben, noch dazu eingeschlossen in Plastikharz, verstehe ich nicht. Das ist äußerst merkwürdig. Es gibt mehrere Varietäten von Stenocara, aber diese hier kommt in der Kalahari vor, und zwar ausschließlich dort. Da bin ich ganz sicher.«
    »Kalahari, Professor? Ahm ... Wissen Sie, ich und die Geografie ...«
    »Zwischen Angola und Südafrika. Die Kalahari-Wüste. Kräftige Winde, extreme Temperaturen, praktisch kein Regen. Eine der heißesten Wüsten der Welt. Soll atemberaubend sein. Die Buschleute, all das, ihre Klicksprache.«
    »Klicksprache?«
    »Die Konsonanten werden durch Schnalzen der Zunge an bestimmten Stellen des Gaumens gebildet. So: Monsieur, klick, Séné, klick, chal, klick, klick.«
    »Danke, das genügt. Sie sind sehr sprachbegabt, Professor. Es ist also sehr heiß in dieser Wüste, und die Leute, die sich dort begegnen, klicken sich zu. Wunderbar. Und weiter?«
    »Mehr als heiß, Monsieur Sénéchal. Selbst die Eidechsen, eine der wenigen anderen Tierarten, die zusammen mit den Stenocara-Käfern in diesem Glutofen leben, müssen von einem Bein auf das andere wechseln, so sehr brennt der Sand. Man fragt sich, wie diese Kreaturen in derart ungastlichen Regionen überleben können, nicht wahr?«
    »Und das ist alles, was bei Ihren sicher fundierten Recherchen herausgekommen ist? Wird dieses Insekt zum Beispiel vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen als gefährdete Tierart geführt?«
    »Ganz und gar nicht. Es ist äußerst verbreitet.«
    Der hagere Wissenschaftler entnahm dem plötzlichen Schweigen am anderen Ende der Leitung, dass Sénéchal maßlos enttäuscht war. Er zögerte.
    »Ich meine, etwas darüber gelesen zu haben. Es will mir nur gerade nicht einfallen ... Ich werde einen meiner Studenten bitten, ein wenig zu recherchieren, klick ... Ich rufe Sie wieder an - ganz bestimmt.«

DRITTER TEIL
 
 
 
DIE DREI PRINZIPIEN
DES XI PING ZHU

 
 
 
 
    Es wird dunkel über Réunion, die untergehende Sonne färbt den Himmel glutrot. Die Berge nehmen einen indigoblauen Ton an. Der Mann bewundert den Himmel über dem Vulkan und gähnt. Hat er von Chimären geträumt? All das liegt weit zurück ...
    Mit steifen Gliedern erhebt er sich aus seinem Liegestuhl. Er geht um die Hütte herum zu einem mit geflicktem Maschendraht

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