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worauf sie auf die Nachbarinsel flüchtet. Und ein gewisser Rhaddiaunir, ein Freund von Mahakam oder Mitarbeiter bei einem uns unbekannten Projekt, macht sich nach dem Selbstmord dieses armen Teufels ebenfalls aus dem Staub, ist für die Polizei unauffindbar, hält sich aber in einer mit einem Amateursender ausgestatteten Hütte im Garten der Witwe verborgen. Durch das geschickt manipulierte Gitter vor dem Fenster des Arbeitszimmers geht er nach Belieben im Haus ein und aus.«
»Die Witwe schwört, dass sie keine Ahnung hat, wo sich Rhaddiaunir jetzt aufhält.«
»Er hatte nicht die Zeit, seine Dokumente mitzunehmen, umso besser ... Wissen Sie, was dieser Bursche so treibt? Ist er nicht Vulkanologe oder etwas Ähnliches?«
»Ich glaube, er ist Physiker oder Chemiker. Madame Mahakam hat sich nicht sehr präzise geäußert. Auf jeden Fall ist er ein Spezialist auf seinem Gebiet. Sie sagte mir, ihr Mann hätte großen Respekt vor ihm und seiner Meinung gehabt. Ich denke, er taucht eines Tages wieder auf.«
»Tja. Wenn er nicht einem dummen Unfall zum Opfer fällt ... Dieser mysteriöse Rhaddiaunir, der nach Aussage der Witwe unglaubliche Angst hatte, versteckte in der Hütte Dokumente der Firma Takenushi. Ziemlich sonderbar.«
»Ich habe mir die Sachen kurz angesehen. Lauter Diagramme und ganze Seiten mit Berechnungen ...«
»Weiß die Witwe, worum es sich handelt?«
»Sie behauptet, es nicht zu wissen. Doch sie sagt, dass ihr Mann und Rhaddiaunir zusammen an gewissen Dokumenten arbeiteten ... Ich habe den Eindruck, diesen Mahakam beschäftigten bisweilen ganz andere Dinge als die Rettung dieses netten vorsintflutlichen Fisches, Monsieur Sénéchal.«
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Sénéchal las zum zehnten Mal den Brief von Mahakam. Eine Passage interessierte ihn besonders:
Wenn sie ihn schnappen
töten sie ihn und Lang
sie glauben, mich in der Hand zu haben
das Wasser. Angst. Ihre Chimären große Angst all diese
Albträume
Ich muss eine Entscheidung treffen ...
Der Umweltinspektor kratzte sich nachdenklich an der Schläfe. In seinen Wahnzuständen war der unglückselige Beamte und Schützer des Quastenflossers besessen von Chimären, die ihn verfolgten. Das jedenfalls hatte sein Sohn gesagt.
Im Internetlexikon fand er unter dem Suchbegriff »Chimäre« mehrere Definitionen. Die erste beschrieb ein Fabelwesen aus der griechischen Mythologie - vorne Löwe, in der Mitte Ziege, hinten Drache. In der zweiten, mehr wissenschaftlichen, ging es um Organismen mit Erbinformationen verschiedener Individuen. Die dritte war die eines seltenen Tiefseefisches der Ordnung Holocephali. Im übertragenen Sinne war die Chimäre natürlich ein Trugbild, eine Einbildung ...
Sénéchal knurrte:
»Fische, immer Fische. Ich kann es nicht mehr hören!«
Er haute genervt in die Tasten und kehrte zur Chimäre in der Mythologie zurück. Der Legende nach, so erfuhr er, spie das antike Wesen Feuer wie ein Vulkan und verschlang Menschen, die das Pech hatten, ihm über den Weg zu laufen. Verzweifelt darüber, dass das Ungeheuer seine treuen Untertanen ausrottete, beauftragte der König von Lykien einen Krieger namens Bellerophon, ihn von dieser Geißel zu befreien. Der Held erschien auf dem fliegenden Pferd Pegasus und erlegte die Chimäre mit Bleipfeilen, die in der Hitze des Feuers, das die Bestie ausstieß, schmolzen. Auf diese Weise verbrannte das Ungeheuer.
Sénéchal suchte benachbarte Worte von »Chimäre«. Er fand einen Ornithoptera chimarae, einen prächtigen, von Sammlern heiß begehrten Schmetterling. Sonst gab es nichts Bemerkenswertes zu diesen Viechern - außer dass Bewohner Papua-Neuguineas sie auf »Farmen« züchteten und dass mit den Erträgen aus ihrem Verkauf ein UNEP-Programm zum Schutz der lokalen Wälder finanziert wurde.
Er kehrte zu dem Tiefseefisch zurück und erfuhr, dass dieser einen äußerst hässlichen Kopf hatte und einen Giftstachel besaß, dass man aber (sofern man einem begegnete) ein seltenes und daher kostbares Öl daraus gewinnen konnte, das reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren war.
Er suchte unter dem Begriff »mehrfach ungesättigte Fettsäuren« und las, dass diese natürlichen Substanzen sich in vielerlei Hinsicht positiv auf den menschlichen Körper auswirken: Zum Beispiel senken sie den Blutdruck, beugen der Arteriosklerose vor und wirken der Zellalterung entgegen.
Sénéchal nickte wie ein Mensch, der soeben Klarheit über eine Sache gewonnen hat. Was keineswegs der Fall
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