H2O
Radioleute anrufen und ihnen eine weitere Sendung vorschlagen. Sie spult das Band zurück, hält das Mikro dicht an den Mund und säuselt:
»Entlang der Schlucht, wenn die Guajaven blühen ...«
Madame Hoareau verstummt abrupt, da sie glaubt, einen verhaltenen Applaus vernommen zu haben. Sie dreht sich um, doch wegen des hellen Scheins der Lampe kann sie nur wenige Meter weit sehen. Die Nacht ist stockfinster, die Berge in der Ferne bilden eine schwarze, in weißlichen Nebel gehüllte Masse.
Sie dreht die Flamme ihrer Sturmlampe herunter und wartet, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Der Rand des Zuckerrohrfeldes bildet ein weißliches Band in der Finsternis. Sie wartet, doch nichts geschieht. Wieder greift sie nach ihrem Mikrofon.
»Entlang der Schlucht ...«
Sie hebt den Kopf. Diesmal ist sie ganz sicher, etwas gehört zu haben. Ein Echo ihres Liedes. Sie lauscht. Jemand singt mit näselnder Stimme irgendwo in der Dunkelheit.
Die Stimme lässt sie erschaudern. Sie hat etwas ... Krankhaftes.
Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie auf ihrer hell erleuchteten Veranda wie auf dem Präsentierteller sitzt.
Die Stimme wird höher und lauter, nähert sich, schlägt schließlich in ein Murmeln um. Dann verfällt sie in eine Art Litanei. Anschließend vernimmt die üppige Frau ein leises Lachen, und wieder erklingt das Lied in schmachtendem Ton. Es scheint, von der Luft getragen, aus dem Nichts aufzutauchen. Die Stimme wird brüchig, dann hart, schließlich drohend. Nach einer kurzen Pause stößt sie flehentliche und manierierte Liebesschwüre hervor, dann verebbt sie in einem rauen Schluchzen.
Die dicke Frau zittert. Gerade hat sie eine helle Gestalt am Rand des Zuckerrohrfelds ausgemacht. Sie beugt sich auf ihrem Stuhl vor, als könne sie so besser das nächtliche Geheimnis durchdringen. Die Gestalt bewegt sich. Madame Hoareau erspäht einen runden Kopf, einen Hut, ein helles Kleidungsstück. Ihre Augen weiten sich. Das ist die Vogelscheuche! Die Vogelscheuche, die sie zertrümmert hat, wiegt sich dort unten in ihrer Öljacke zwischen den Zuckerrohrhalmen! Sie singt ... Sie singt und kommt näher!
Madame Hoareau erhebt sich mühsam von ihrem Stuhl und wendet sich um.
Die Stimme nähert sich ihr.
Die Witwe läuft die Stufen der Veranda hinab. In der Dunkelheit wäre sie fast gestürzt. Mit klopfendem Herzen eilt sie am Haus entlang und tastet nach der Tür der separaten Küche. Hektisch fummelt sie an dem Schloss herum, bis sie es endlich schafft, es zu öffnen. Sie schlüpft hinein und schlägt die Tür hinter sich zu. Um sie herum ist es stockfinster. Dennoch finden ihre Hände den Schlüssel, den sie hastig umdreht. Erschöpft lehnt sie sich gegen die Tür und schließt die Augen.
Als sie sie wieder öffnet, bereut sie ihre Entscheidung. Von hier aus kann sie niemanden anrufen.
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»Monsieur Sénéchal? Hier Vannier. Ihr Mann von Tromelin ist eingetroffen. Wenn Sie mit ihm reden wollen, er steht hier auf der Polizeistation zu Ihrer Verfügung - gut gekühlt.«
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Im Dunkel ihrer Küche horcht Madame Hoareau angestrengt. Was war das? Wo befindet sich dieses Wesen jetzt? Auf der Veranda? Schleicht es ums Haus herum? Sie hat Angst. Eben hat sie noch in der Ferne ein Schnattern vernommen, doch nun ist außer den Geräuschen der Nachtinsekten nichts mehr zu hören.
Sie versucht tief und gleichmäßig zu atmen, um sich zu entspannen. Nach und nach gewinnt ihre kämpferische Natur wieder die Oberhand. Sie klammert sich an den Gedanken, dass ihr jemand Angst einjagen will - indem er sich einer Vogelscheuche bedient, die der ihren gleicht.
Aber diese Stimme. Diese Stimme ...
Allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. In dem schwachen Licht, das durch die kleine Scheibe über der Tür fällt, kann sie jetzt den Tisch, den Herd und den Schirmständer mit der Machete gleich neben dem Sack mit den Zwiebeln erkennen. Auf leisen Sohlen schleicht sie zu dem Buschmesser. Vielleicht ist ihre Flucht in die Küche ja unbemerkt geblieben ... Vielleicht ...
Mit ausgestreckten Armen tastet sie sich voran und hält den Atem an, während sie behutsam einen Fuß vor den anderen setzt. Sie geht um den Herd herum und greift nach der Machete.
Als plötzlich hinter ihr an der Klinke gerüttelt wird, erschrickt sie so sehr, dass ihr das Messer aus der Hand rutscht und klirrend auf den Boden fällt.
Das Wesen ist auf der anderen Seite der dünnen Holzwand.
Dann ein Schlag gegen
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