H2O
angesichts der Geschäftigkeit um ihn herum, so als sei er mit dem Arbeitsrhythmus zufrieden. Gleich darauf ist er verschwunden. Das Ganze hat nur eine Sekunde gedauert. Lang wartet, bevor er den Schuppen mit dem Schild »PVC« verlässt. Dann nimmt er einen staubigen Weg an einem ruhig dahinfließenden Bach, den dicke Mangrovenwurzeln säumen. Die Nacht bricht herein, in wenigen Minuten wird es dunkel sein. Undeutlich erkennt er einen Fischer mit einem großen Hut, der auf einer Kiste sitzt. Lang ist erleichtert. Der Mann ist gekommen.
Hinter ihm sagt jemand:
»Der Campus ist sehr schön, doch man darf nicht mit seiner Freundin am See spazieren gehen.«
Lang findet die Situation etwas albern, ganz so wie in den Spionageromanen, die er früher verschlungen hat - heimlich in der Gartenhütte, damit ihn sein Vater nicht bei der Lektüre von solchem Schund erwischte.
Dann wendet er sich um und antwortet dem Mann mit der Brille (es ist ganz eindeutig der Weiße, den Sénéchal ihm beschrieben hat):
»Die Geister dort würden die Liebe schnell zerstören.«
Der Fremde zeigt keine Regung. Lang mustert ihn und findet die Situation nun weniger amüsant, da er erschaudernd bemerkt, dass die Hand, die der Mann in der Tasche hat, eine Waffe hält.
Der Brillenträger mustert den Jungen und hebt fragend eine Augenbraue. Lang dreht sich auf dem Absatz um und geht in der für sein Alter typischen schlaksigen Art den Pfad entlang. Der Mann blickt sich vorsichtig um und folgt ihm dann in gut zehn Meter Abstand.
Lang kommt zu der Kiste, auf der eben noch der Fischer saß. Daneben ein Strohhut und ein Korb mit allerlei Utensilien, wie Ködern und Angelschnur. Ein blaues Taschentuch hängt heraus.
Bedrückt sucht der Junge die Umgebung mit den Augen ab. Rhaddiaunir hat nicht gewartet. Sicher hatte er Angst vor dem Weißen.
Lang ist enttäuscht. Er hat seine Mission nicht erfüllt. Er dreht sich zu dem Mann um, der ihm gefolgt ist, und schüttelt den Kopf. Mit einer verärgerten Handbewegung schiebt Edouardo die viel zu große Brille, die ihm ständig auf die Nasenspitze rutscht, zurück und zischt:
»Verschwinden wir von hier, und zwar schnell!«
75
Madame Hoareau inspiziert ihre Schallplatten, wählt eine aus, zieht sie aus der Hülle und legt sie auf den Plattenteller. Dann hört sie mit geschlossenen Augen zu ... Nicht übel ... Ein altes Lied, fast schon vergessen. Wieder einmal ...
Sie summt den Refrain, dann die gesamte Melodie, die ihr recht einfach scheint. Sie lauscht der schmachtenden Stimme des Sängers ... Etwas altbacken, auf dieses Gegurre kann man verzichten.
Sie prüft die Batterien ihres Kassettenrekorders und schließt ein Mikrofon an. Dann hört sie sich das Lied noch zweimal an und versucht sich den Text zu merken. Natürlich eine Liebesgeschichte. Liebe, die vergeht, die Zeit der Guajaven ...
Sie schlüpft in eine dicke Wolljacke, legt noch einen Schal darüber, löscht das Licht und tritt mit schwerfälligem Schritt auf die Veranda hinaus, den Kassettenrekorder in der Hand.
Draußen riecht es nach feuchter Erde. Es ist angenehm kühl. Trotz der Dunkelheit findet Madame Hoareau sofort ihre Sturmlampe auf dem Verandaboden und Zündet die Gasflamme an. Ein weißes Licht leuchtet auf es wirft harte Schatten an die Mauer und Holzpfosten, die den Dachüberhang stützen. Mühsam lässt sich die füllige Frau auf einen Stuhl am Ende der Terrasse sinken und schaltet ihren Kassettenrekorder ein. Dank ihrer Jacke und ihrem Tuch ist ihr nicht kalt. Nun stimmt sie den Refrain des eben gehörten Liedes an. Sie ist stolz auf ihr außergewöhnlich musikalisches Gehör: Der Text und die Melodie, die sie sich nur dreimal vorgespielt hat, kommen ihr ganz selbstverständlich über die Lippen.
Sogar im Radio ist sie schon aufgetreten. Vor einigen Jahren hat sie einer der Inselsender eingeladen, einige Klassiker, die langsam in Vergessenheit geraten, ins Mikrofon zu trällern. Danach hatte sie die Hörer mit ihrer Spieldose namens Tipus Tiger unterhalten - den Todesschreien des Soldaten und dem Fauchen des Tigers. In der Sendung hat man ihre Adresse bekannt gegeben, und anschließend beglückwünschten sie Leute in zahlreichen Zuschriften, weil sie die Lieder aus ihrer Jugend wieder zum Leben erweckt hatte.
Bei dieser Erinnerung fühlt sie sich richtig stolz.
Übrigens, je öfter sie dieses Lied singt, desto hübscher findet sie es ... Wenn sie ihre endgültige Version aufgenommen hat, wird sie die
Weitere Kostenlose Bücher