H2O
die Tür. So wie damals bei dem Mann mit den Zusammengeklebten Händen ... Dieses Wesen versucht sie einzudrücken.
Zitternd hebt die Witwe die Machete auf und weicht zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand steht. Sie starrt auf die kleine Scheibe im oberen Teil der Tür. Das Licht des aufgehenden Mondes dringt herein. Kann man sie einschlagen und durch die Luke in die Küche eindringen?
Nein, entscheidet sie. Und sie darf sich auf keinen Fall einschüchtern lassen. Entschlossen schiebt sie den Tisch vor die Tür. Nachdem sie die Klinke blockiert hat, wuchtet sie den Sack mit den Zwiebeln auf die Platte. Dann türmt sie alles auf den Tisch, was ihr unter die Finger kommt. Keuchend und schweißgebadet zieht sie schließlich den Stuhl heran, setzt sich darauf, rutscht bis an die Tischkante und legt den Kopf auf den Zwiebelsack, die rechte Hand mit der Machete neben sich ausgestreckt. Ihr Körpergewicht, denkt sie, stellt ein weiteres, nicht unerhebliches Hindernis dar. Von der anderen Seite der Tür ist kein Laut mehr zu hören.
Doch dann vernimmt sie ein leichtes Kratzen am Holz. Direkt neben dem Schloss. Ein Kratzen, das immer lauter wird. Madame Hoareau tastet nach dem Schlüssel, um ihn ein zweites Mal umzudrehen. Sie erschaudert: Die Stimme psalmodiert jetzt etwas Unverständliches. Das Kratzen scheint von den Krallen eines Tieres zu stammen.
Einen Moment lang herrscht Stille, dann ist die Stimme erneut zu hören. Die füllige Frau beginnt auf ihrem Stuhl zu zittern. Sie beißt die Zähne zusammen und stemmt sich mit aller Kraft gegen die Tischkante. Der Geruch der Zwiebeln steigt in ihre Nase und brennt ihr in den Augen. Diese Stimme klingt sonderbar geschlechtslos. Madame Hoareau kann nicht unterscheiden, ob sie einer Frau, einem Kind oder einem Mann gehört. Bald klingt sie schmeichelnd und zärtlich, dann schlägt sie um, so als würde eine andere Person sprechen, die nicht im Besitz ihrer vollen geistigen Kräfte ist.
Wie die Stimme eines Idioten, denkt sie ... Eines Idioten oder einer Verrückten.
Was ist das? Ein Betrunkener? Ein Kind, das mir Angst machen will? Nein, nein ... diese Person ist gefährlich ... Sehr gefährlich.
Da verstummt die Stimme. Im Raum wird es noch finsterer. Madame Hoareau hebt den Kopf: In dem Fenster über der Tür ist ein Gesicht zu sehen. Wegen des Gegenlichts kann sie die Züge nicht erkennen. Es wirkt wie eine platt gedrückte schwarze Maske.
Dann wendet es sich ab und verschwindet. Ein Schlag und erneutes Kratzen, schließlich ein frustrierter Wutschrei, schnelle Schritte, die sich auf dem weichen Boden entfernen. Stille.
Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, als die üppige Frau sich mit ihrer Machete hinauswagt. Irgendwann in der Nacht ist sie auf dem Stuhl eingeschlafen. Als sie, die Nase in ihrem Zwiebelsack, aufwacht, fragt sie sich, ob das alles nicht nur ein Albtraum gewesen ist. Sie fühlt sich völlig zerschlagen.
Mit zögerlichem Schritt geht sie zum Haus. Auf der Veranda ist alles unverändert, die Sturmlampe ist ausgebrannt und erloschen. Sie betrachtet den Kassettenrekorder. Offenbar hat ihn niemand angerührt. Sie drückt die Klinke der Eingangstür herunter, wirft einen Blick ins Innere und tritt in das Wohnzimmer.
Alle ihre Spieldosen liegen am Boden verstreut. Ihr Haus ist von oben bis unten durchwühlt worden.
78
Niedergeschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt, saß der Mann an einem Metalltisch. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, deren Schein seinem roten Haar einen kupfernen Schimmer verlieh.
Sénéchal nahm ihm gegenüber Platz. Aus einer Aktenhülle zog er einige Blätter, unter anderem Fotokopien von Presseausschnitten, und legte sein Notizbuch daneben auf den Tisch. Er sah seinem Gegenüber in die Augen.
»Sie heißen Jeremy Phibes und sind südafrikanischer Staatsbürger?«
Der Rotschopf nickte.
»Wir sind uns bei meinem ersten Besuch auf der Jacht der Abyss Foundation begegnet. Allerdings sind Sie in Ihrem Heimatland weniger als Wissenschaftler denn als Lieferant seltener Fischarten für einige Dutzend private Aquarien in aller Welt bekannt ... Und nun treffe ich Sie auf französischem Staatsgebiet an. Sie sind dabei, das seltenste - und sicherlich auch am strengsten geschützte - Tier der Erde zu jagen. Und das in Gesellschaft von zwei höchst dubiosen Typen: Einer der beiden, Charles Designe, ist von seinem Kompagnon ermordet worden, der übrigens auch versucht hat, den Umweltinspektor, der Ihnen jetzt
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