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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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nachts tief durch, und morgens war die Nacht für mich nur eine dunkle Wand aus vergangenen Stunden. Um diese Schlaftiefe zu sichern, gönnte ich mir ab und zu pharmazeutische Unterstützung. Ich hörte im Geist Mamas sorgenvolle Stimme: »Kind, du machst dich fertig. Dieser Schlaf ist künstlich und ungesund. Am Tag vernebelst du deine Sinne mit Arbeit-Arbeit-Arbeit und in der Nacht mit Chemie.«
    Kompletter Unsinn. Ich brauchte ausreichend Schlaf und hatte einfach keine Zeit, zwei Stunden oder länger wach zu liegen und zu grübeln. Das Risiko konnte ich nicht eingehen. Ich musste am nächsten Tag toppfit sein. Die Konkurrenz war hellwach. Eine leichte Einschlafhilfe! Oh Gott, oh Gott! Wie verwerflich! Das war auch so eine Verlogenheit unserer Gesellschaft. Auf der einen Seite will man leistungsfähige, immer leistungsfähigere Erwerbstätige, und auf der anderen reißt man empört das Maul auf, wenn sich jemand, um abzuschalten, eine kleine Tablette verabreicht, und für den Tag in Ausnahmefällen mal ein bisschen Dope. Jedenfalls träumte ich wenig, im Grunde nichts, während Hans mir am Morgen ganze Romane erzählen konnte.
    Hans. Ich hatte plötzlich Sehnsucht nach ihm. Warum war er nicht zu Hause?
    Ich wühlte in meiner Handtasche nach dem Handy, um ihn anzurufen. Das hätte ich schon längst tun sollen, anstatt mich hier mit unsäglichen Überlegungen zu plagen. Aber genau wie vorhin im Auto hatte ich Probleme, auf dem Display etwas zu erkennen. Ich stand auf, um es über Festnetz zu versuchen. Neben unserem Telefon auf der Flurkommode lag eine Brille. Zögernd griff ich danach und setzte sie mir umständlich auf. Das Bild auf dem Display nahm Gestalt an. Zahlen und Zeichen waren für mich sichtbar. Ohne mich in erneute Grübeleien zu verstricken, kehrte ich in die Küche zurück, griff nach meinem Handy und drückte auf: Hans anrufen .
    Einen Augenblick Stille am anderen Ende. Dann ertönte eine Tonbandstimme. »Kein Teilnehmer unter dieser Rufnummer.«
    Ich runzelte die Stirn und wiederholte den Vorgang höchst konzentriert, um keinen Fehler zu machen. Derselbe Spruch. Ermattet legte ich das Handy auf den Küchentisch und setzte mich. In dem Augenblick klingelte das Telefon auf dem Flur. Ich sprang wie elektrisiert hoch und musste mich auf die Tischkante stützen. Die Küche drehte sich in einem schwindelerregenden Tempo. Ich wartete, bis sich die Karussellfahrt verlangsamte. Dann stolperte ich wankend los und nahm den Telefonhörer ab.
    »Hallo, Mama«, begrüßte mich eine gut gelaunte Frauenstimme.
    Ich hatte so sehr gehofft, Hans am anderen Ende zu haben. Deshalb erklärte ich nur matt: »Sie haben sich verwählt.«
    Bevor ich auflegen konnte, hörte ich die Frau rufen: »Nein, ich bin es, Mama! Mira!«
    »Mira!«, wiederholte ich. Die Erleichterung und Freude, etwas von meinem Kind zu hören, siegte über das Misstrauen und die Verwunderung, die Stimme nicht zu kennen. »Wo bist du denn? Du hörst dich so verzerrt an.«
    »Ich bin ein bisschen erkältet«, antwortete sie. »Aber wo soll ich sein? Zu Hause.« Sie klang weiterhin völlig unbeschwert.
    »Mira, was redest du da für einen Unsinn? Ich bin zu Hause, und zwar allein. Also bitte, treib mit mir keine Scherze. Ich bin nicht in der Stimmung dafür. Also, wo seid ihr?«
    Stille am anderen Ende.
    »Mama, was stellst du für eigenartige Fragen. Ich bin in Bern.«
    »In Bern? Was um alles in der Welt macht ihr in der Schweiz? Ist Papa verrückt geworden? Mit euch so weit wegzufahren, ohne es vorher mit mir zu besprechen. Ihr habt morgen Schule!«, rief ich empört.
    Ich hörte, wie Mira tief durchatmete.
    »Mama, ich lebe seit 30 Jahren in Bern. Was ist mit dir los?«
    »Mit mir ist gar nichts los«, schimpfte ich aufgebracht. »Die Frage geht mehr an dich. Willst du mich auf den Arm nehmen? Es reicht! Gib mir sofort Papa an den Apparat.«
    »Mama, jetzt hör mir mal ganz ruhig zu«, ihre Stimme klang plötzlich butterweich. »Ich rufe Dr. Ohlsen an. Okay? Der wird gleich bei dir vorbeischauen. Und ich eise mich hier so schnell wie möglich los. Ich glaube, wir haben uns zu lange nicht gesehen.«
    »Was soll ein Dr. Ohlsen bei mir? Ich kenne keinen Dr. Ohlsen. Und rede mit mir nicht in diesem Ton. Ich will Papa sprechen! Sofort!«
    »Mama, hör mal.«
    »Nein, ich höre überhaupt nichts mehr. Gib mir Papa.«
    »Mama – Papa ist seit zehn Jahren tot.«
     
    Interview: weiblich, 32 Jahre
     
    Zum Wort ›alt‹ fällt mir gebraucht, träge,

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