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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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ersten Klassenfahrten. Obwohl meine Mitschüler mich damit gehänselt hatten und mich ›Rosakoffer‹ genannt haben. Ich habe ihn heiß geliebt. Bis ich ihn Lena ausgeliehen habe. In der Nacht, in der sie weggelaufen ist. Sie durfte vorher mit ihm spielen. Das war unser Deal, damit sie mich nicht verpetzte. Sie hat ihn mit ihren Puppen und eigenen Schätzen bepackt. Seitdem habe ich den Koffer nicht mehr gesehen. Da war ich 15. Auf den Tag genau.
    Wie kam der Koffer mit einem Mal wieder hierher? Meine Güte, auf welchem Trip befand ich mich? Hatte Mama mir irgendwas in den Kaffee getan? Etwas Bewusstseinserweiterndes? Das würde zu ihr passen. Sie war besessen von der Idee, mit mir über damals zu reden. Mich zu heilen. Aber da gab es nichts mehr zu bereden und auch nichts zu heilen. Das musste sie endlich einsehen. In der Nacht ist Lena vor ein Auto gelaufen und noch am Unfallort gestorben. Ich konnte ihr nicht helfen. Welche Gespräche sollte es darüber geben? Und Steve hat in der Nacht … Schluss, Michelle! Du hast es 26 Jahre geschafft, nicht mehr an diese Nacht zu denken, und das hat dir ausgesprochen gutgetan. Du bist erfolgreich. Sehr erfolgreich. Es gibt nicht viele, die schon mit 30 ihre Facharztpraxis eröffnen. Aus eigener Kraft, wohlgemerkt.
    Wahrscheinlich hatte Mama den Koffer aufgehoben und mir hier vor die Füße gestellt. Sie schreckte wirklich vor nichts zurück, um mir ihre hauseigene Therapie aufzudrücken.
    Wütend gab ich dem Koffer einen Tritt mit dem Fuß, und er flog in die Ecke. Jetzt erst fielen mir die anderen Ungereimtheiten im Schlafzimmer auf. Unsere Ehebetten. Meine Hälfte war benutzt. Die Decke war hochgeschlagen. Über Hans‹ Seite lag eine Tagesdecke aus Patchwork. Ganz ordentlich um das akkurat gemachte Bett drapiert. Das Bild erinnerte mich an ein frisch aufgeschüttetes Grab. Mit einer ungeduldigen Bewegung zerrte ich die unbekannte Decke herunter und pfefferte sie auf den Fußboden.
    Ich riss die Schranktüren auf und blieb wie angewurzelt davor stehen. Was war das jetzt? Wo zum Kuckuck waren meine Sachen? Alle weg. Hier lagen nur fremde Klamotten. Pullover und Shirts waren säuberlich in die Regale sortiert. Hosen und sogar Röcke hingen an Bügeln. Altbackene, die nicht mal Mama anziehen würde. Ich hatte keine Wahl. Ich musste mich waschen und aus der Reithose. Widerwillig griff ich nach einer hellen Sommerhose und einer leichten, dezent geblümten Bluse. Meine Unterwäsche musste ich wohl oder übel anbehalten. Nichts würde mich dazu bringen, die einer Fremden anzuziehen.
    Das Telefon klingelte schon wieder. Ich setzte mir die Lesebrille auf und schaute erst auf das Display. Dr. Ohlsen. Ich nahm nicht ab. Dr Ohlsen war mir nicht bekannt, und den hatte die Tussi, die sich als Mira ausgegeben hatte, angekündigt. Der gehörte mit zu diesem blöden Spiel. Sollte er ruhig anrufen. Ich würde nicht mehr an den Apparat gehen.
    Im Badezimmer empfing mich erneut eine erdrückende, unbekannte Leere. Der Raum wirkte abstoßend hell. Ich rief mir Patientenberichte mit ähnlich irritierenden Eindrücken ins Gedächtnis. Sie beschrieben es vom Gefühl her als Gegenteil eines Déjà-vus. Sie sehen das Vertraute mit den Augen eines Fremden. Wie zum ersten Mal. Dieses Phänomen tritt unter anderem nach Stresssituationen auf. Okay, Michelle. Deine Patienten kannst du doch auch immer beruhigen, damit sie sich nicht für komplett durchgeknallt halten. Also glaub dir gefälligst selbst: Alles wird wieder gut!
    Ich wusch mich, ohne nach rechts oder links zu sehen, und zog die unbekannten Kleidungsstücke an.
    Als ich aus dem Badezimmer kam, fiel mein Blick durch die geöffnete Schlafzimmertür wieder auf den Kinderkoffer. Ich ging langsam auf ihn zu. So als vermutete ich, dass er sich jeden Augenblick in Luft auflösen könnte. Ähnlich wie der altbekannte Kinderstreich: Ein Portemonnaie wird an einem dünnen Bindfaden befestigt und auf den Bürgersteig gelegt. Wenn sich ein Begieriger danach bückt, zieht man an dem Faden. Das arme Scherzopfer sucht so schnell wie möglich das Weite. Beschämt, in die Falle getappt zu sein. Das schadenfrohe Lachen der Schelme im Ohr.
    Ich blieb vor dem Koffer stehen und starrte ihn misstrauisch an. Meine Hände zuckten unruhig. Ich sah mich noch einmal in der Wohnung um. War ich wirklich allein, oder lauerte man in einer Ecke und beobachtete mein Verhalten, wie ich mit dem Relikt meiner Kindheit umging. Meine Neugier siegte. Ich überwand mich, schnappte

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