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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Unwichtig, wie verrückt mir alles erschien und wie viel Angst es mir machte. Ich musste die Realität der anderen, so wie sie mich sahen, als Wahrheit anerkennen. Dann bestünde keinerlei Grund mehr, mich als unzurechnungsfähig zu erklären. Sie würden mich in Ruhe lassen, weil mein Verhalten mit ihrem Bild von mir übereinstimmte. Und es war die einzige Möglichkeit, gleichzeitig Magdalene zu helfen. Sie könnte bei mir wohnen. Das dürfte uns niemand verbieten. Danach würden wir schon weitersehen. Jeder machte Fehler. Irgendwann. Und dieser miese Neffe würde auch einen machen. Wir mussten nur erst einmal aus der Schusslinie kommen und unser Recht auf Selbstbestimmung verteidigen.
    Während ich diesen Gedanken nachging, brühte ich mit routinierten Handgriffen schwarzen Tee auf. Eigenartig. Ich war immer eine passionierte Kaffeetrinkerin gewesen. Ich nahm kopfschüttelnd die Teekanne und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Auf dem Flur streckte ich mir im Garderobenspiegel die Zunge heraus. Dabei war mir nicht nach Witzemachen zumute. Mein Spiegelbild war eine erneute Enttäuschung. Insgeheim hatte ich die leise Hoffnung gehegt, wenn ich mein Alter annehme, mich endlich auch so zu sehen. Aber mir blickte noch immer die Michelle von gestern entgegen. Ich sollte einfach nicht mehr in den Spiegel schauen.
    Magdalene war inzwischen eingeschlafen. In einer denkbar unbequemen Position. Sie hatte den Kopf nach hinten überstreckt fallen lassen und gab aus weit geöffnetem Mund rasselnde Schnarchtöne von sich. Ich war mir sicher, ihr Anblick wäre ihr selbst am unangenehmsten gewesen.
    Ich stellte die Teekanne auf dem Tisch ab und kümmerte mich um sie. Ich umfasste vorsichtig ihren Nacken, schob ihren Oberkörper zur Seite und lagerte ihren Kopf auf ein Kissen. Magdalene zog ihre Beine mechanisch auf das Sofa hoch. Dabei wachte sie nicht auf. Ich deckte sie mit einer Wolldecke zu und ging zurück in die Küche.
    Dort schmierte ich mir zwei Scheiben Brot. Fingerdick mit Leberwurst und Senf. Das hatte ich seit meiner Pubertät nicht mehr gegessen. Jetzt lief mir schon bei dem Geruch der Speichel im Mund zusammen.
    Mit dem Brotteller und einem großen Becher Tee setzte ich mich zu Magdalene ins Wohnzimmer. Als ich satt war, lehnte ich mich in meinem Sessel zurück. Es war still im Haus. Nur das leise Ticken der Wanduhr war zu hören. Ich streichelte zärtlich über das Polster der Armlehne. Wie schön, dass manche Möbelstücke so lange halten. Dieser Lehnstuhl war einer der wenigen Überbleibsel aus meinem Elternhaus. Der Sessel und – der Koffer. Ich hatte ihn neben mich an den Stuhl gestellt. Sollte nicht doch noch …? Nein! Keine alten Kamellen mehr. Heute hatte ich schon genug Erinnerungen durchlebt. Mehr als in den vergangenen Jahrzehnten zusammen. Ich würde hier sitzen bleiben. Vielleicht sollte ich Magdalenes Beispiel folgen und auch ein bisschen schlafen. Das würde mir sicher guttun.
    Ich schloss die Augen. Magdalenes Atemzüge gingen mittlerweile fast lautlos. Ich hängte mich in ihren Rhythmus. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Seit ich die Augen geschlossen hatte, schlug mein Herz schneller. Ich hörte die Uhr lauter ticken als zuvor, und Magdalenes entspannte Schlafgeräusche hatten auch keine beruhigende Wirkung mehr auf mich.
    Ich öffnete wieder die Augen und setzte mich gerade hin. Vielleicht hatte ich doch einen wichtigen Hinweis übersehen. Ich hatte viel zu hastig die Briefe und Fotos durchgewühlt. Entschlossen zog ich den Koffer hoch auf den Schoß. Ich würde ihn noch einmal ganz in Ruhe durchsuchen.
    Als ich den Deckel öffnete, erkannte ich den Brief auf den ersten Blick. Hellblaues Papier, auf das zartweiße Wolkengebilde gedruckt waren. Mamas Briefpapier.
     
     
    Interview: männlich, 55 Jahre
     
    Bei dem Wort ›alt‹ denke ich an Backsteinhäuser mit wunderschönen, individuell gestalteten Fassaden. Alt, weil sie durch die angedachte Zwangswärmedämmung in Plattenhaussiedlungen verwandelt werden sollen. Und an Glühbirnen. Wenn die einmal zersprangen, brauchte man nicht wie bei den Energiesparlampen Vorsichtsmaßnahmen einleiten, die an einen Chemieunfall erinnern.
    Ich mag es nicht, wenn alte Menschen Altsein für einen Verdienst halten. Auf der anderen Seite tun mir die alten Menschen heutzutage leid. Ihre Erfahrung gilt nichts mehr. Sie haben gesellschaftlich keinen Rang. Wenn mein Opa zu mir gesagt hatte: »Geh langsam, Junge, und trink viel Wasser!«, hatte das für mich

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