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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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noch eine Aussage.
    Er war der Mann, der gesehen hat, dass eine Straßenbahn nicht mehr von Pferden, sondern an Drahtseilen gezogen wurde. Seine Generation konnte sich noch wundern. Über was sollten wir uns wundern? Es ist völlig egal, ob ein Auto mit Benzin oder Strom fährt. Die Entwicklung ist so rasant, dass wir die Unterschiede kaum noch bemerken. Was kann ich meinem Sohn noch Bemerkenswertes erzählen? Zum Beispiel, wenn er vor mir steht und klagt, dass sein PC zu langsam ist. Dann sage ich, dass der Arbeitsspeicher meines ersten PCs ein Millionstel der Kapazität von seiner jetzigen Grafikkarte hatte. Aber er kann sich das nicht mehr vorstellen.
    Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich wahrscheinlich mein I-Pad mitnehmen. Das hat für mich den gleichen Wert wie damals für meinen Opa sein Taschenmesser.
    Mit 86 Jahren bin ich bereits seit drei Jahren tot. Das ist aus dem erreichten Lebensalter meiner Vorfahren errechnet. Dann bin ich 33.000 Tage alt geworden. Das ist doch schön.

Kapitel 18
     
    Ein Brief von Mama. Sie hatte mir also doch eine Nachricht hinterlassen. Ich starrte den Umschlag an und war unfähig, meine Hand danach auszustrecken. Als befürchtete ich, er könnte sich durch Berührung in Luft auflösen. Ich riss mich zusammen und ertastete ihn. Das Papier fühlte sich kühl und echt an. Ich nahm ihn hoch und stellte den Koffer neben mir ab. Dann erst öffnete ich den Brief. Ich zog die handgeschriebenen Seiten heraus und faltete sie andächtig auseinander.
     
    Meine liebe Tochter,
    wenn du diesen Brief von mir in den Händen hältst und liest, sind wir voneinander getrennt. Und doch sind wir uns in diesem Augenblick näher, als wir es jemals gewesen sind.
    Warum wir es nie geschafft haben, miteinander echte Nähe zu leben, weiß ich nicht. Aber ich habe nie aufgehört, darüber nachzudenken.
    Schon als du ein kleines Mädchen warst, als Papa noch lebte und wir beide lange Zeitabschnitte zu zweit allein waren, hatte ich immer das Gefühl, nicht wirklich an dich heranzukommen.
    Besonders wenn Lilly mich besuchte, hast du dich noch mehr zurückgezogen. Mir war bewusst, dass du eifersüchtig warst, und ich hätte dir gerne erklärt, dass dafür kein Grund bestand. Doch wie sollte ich das einem kleinen Mädchen klarmachen? Wie solltest du zu dem Zeitpunkt verstehen, dass man durchaus mehrere Menschen von Herzen lieben kann. Jeden auf seine besondere Art und Weise. Lilly ist meine älteste, meine beste Freundin und ohne sie hätte ich einige Hürden in meinem Leben nicht gemeistert. Ja, ich liebe sie und ich wusste, du magst sie nicht. Ich habe geschwiegen, auch später, als du längst erwachsen warst. Ich hielt es für klüger, keine Worte über meine Gefühle für Lilly zu verlieren. Ich habe überhaupt zu wenig über meine Gefühle gesprochen, obwohl ich voll von ihnen war und bin. Ich habe mich hinter Weisheiten versteckt und sicher viel geredet, aber über meine wahren Empfindungen geschwiegen. Vor allem, weil ich Angst hatte, du würdest dich noch mehr zurückziehen. Das hast du, weil ich in meiner Hilflosigkeit nie die richtigen Worte gefunden habe und so die Missverständnisse genährt und die Kluft zwischen uns vergrößert habe.
    Zuerst will ich dir eine Frage beantworten, die du nie ausgesprochen hast, die aber immer im Raum gestanden hat: Ja, du bist ein Wunschkind! Und was für eins. Hast du dich nie gefragt, warum du Michelle heißt? Du bist in Paris gezeugt worden. Es waren ein paar wundervolle Urlaubstage. Dein Vater und ich waren so glücklich, als ich schwanger war. Endlich! Das war wie ein kleines Wunder. Wir hatten die Hoffnung auf ein Kind fast aufgegeben. Und in dem Überschwang der Gefühle haben wir dich auf den Namen Michelle taufen lassen. Dabei hört sich Michelle Meinberg ein wenig affig an. Schade, dass ich dir das nie erzählt habe. Nicht erzählen konnte. Und nein, es war kein Verzicht für mich, dass ich für dich an Land bleiben musste. Dein Vater und ich waren uns einig, dass ein Kind nicht in der Kunstwelt eines Luxusliners aufwachsen sollte. Du solltest soziale Kontakte zu anderen Kindern haben. Wie du siehst, die Entscheidung trafen wir unabhängig von deinem empfindlichen Magen.
    Du warst gerade acht Jahre alt, da passierte das Unfassbare. Mein Mann, dein Vater, er kam nicht zurück. Nie mehr. Ich fühlte mich, als wäre ich mit ihm gestorben. Ich habe nichts mehr gespürt. Als wäre ich zum Schutz in einen Kälteschlaf versetzt worden.

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