Hab keine Angst, mein Maedchen
in der Zeit, an die ich zurückdenken konnte. Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich hineingriff. Ich hielt die Luft an, als ich einen besonders langen ertasten konnte und herauszog. Ja! Er war es wirklich. Er lag wie eh und je in unserem Geheimversteck. Korrekter ausgedrückt, in Hans‹ Geheimversteck. Er brauchte es als Sicherheit, weil er öfter mal ohne Schlüssel aus dem Haus gegangen war. Diese schusselige Ader mochte ich an ihm besonders. Aber das hatte ich ihm nie gesagt. Im Gegenteil. Ich hatte nur verständnislos den Kopf geschüttelt, wie man so vergesslich sein konnte. Werde nicht sentimental, ermahnte ich mich.
Draußen wartete Magdalene. Ich trat auf die winzige Veranda und hielt meinen Fund triumphierend in die Höhe: »Ich habe ihn!«
Als ich die Haustür öffnete, beschlich mich wieder das mulmige Gefühl, gleichzeitig mein vertrautes Heim und fremdes Territorium zu betreten. Vielleicht war Mira doch im Haus und schlief. Mira, eine längst erwachsene Frau, die sich Sorgen um ihre Mutter machte. Um ihre alte Mutter, die sich am Telefon auffällig benommen hatte. So einem Zusammentreffen fühlte ich mich immer noch nicht gewachsen. Ich sah in Magdalenes müdes Gesicht und versuchte, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Wenn sie mitbekam, wie schwer mir dieser Gang fiel, würde sie meine Hilfe ablehnen, sich ein Taxi rufen und zurück an den See fahren. Aber hier und nur hier hatten wir beide eine Chance auf eine Atempause.
Die sterile Flurgarderobe löste dieses Mal keine Verwirrung in mir aus. Sie beruhigte mich sogar. Es schien wirklich niemand im Haus zu sein.
»Machen Sie es sich im Wohnzimmer bequem«, forderte ich Magdalene auf. Der Raum war mir wie am Abend zuvor der angenehmste. Er stimmte mit meiner Erinnerung fast überein.
Ich hatte Hunger. Anscheinend begann ich mich zu akklimatisieren. Ich vermied es abzuwägen, ob diese Entwicklung gut oder schlecht war. Ob das bedeuten könnte, wirklich alt zu sein. Alt zu bleiben.
Ich machte mich auf die Suche nach Nahrungsmitteln. Hoffentlich hatte ich überhaupt Vorräte im Haus. Immerhin war ich – über 80 Jahre alt. Vielleicht hatte ich längst einen Menübringdienst organisiert, und alle Regale waren bis auf eine Packung Zwieback und Knäckebrot leer gefegt. Das könnte zu mir passen. Ich war nie eine begeisterte Hausfrau und Köchin gewesen. Die Kinder wurden in der Schule mit Mittagessen versorgt, und an den Wochenenden hatte Hans gekocht. Abwechselnd unsere Lieblingsgerichte. Er hatte dafür extra einen Kalender mit Favoriten geführt. Stopp! Nicht in Erinnerungen abtauchen und an Hans denken. Auch nicht an die Kinder und wie turbulent es sonst im Haus herging, wenn sie hier herumturnten. Wenn sie ständig eine Frage hatten und aus einem der Zimmer immer zu laute Musik dröhnte.
Ich inspizierte die Vorratskammer. Dort hatte ich gestern Äpfel entdeckt. Immerhin. Die waren auch eine Überraschung gewesen. Mal schaun, was ich sonst noch auf Lager hatte. Bingo! Ich besaß einen Tiefkühlschrank. Und zwar einen gut gefüllten. Kaum zu glauben, aber ich war anscheinend unter die Köchinnen gegangen. Die Tupperdosen waren säuberlich beschriftet. Kohlroulade. Rindsroulade. Gulasch. Möhreneintopf. Nicht schlecht.
»Was wollen Sie essen? Ich habe ein reichhaltiges Angebot zu bieten!«, rief ich über den Flur ins Wohnzimmer.
»Ich habe keinen Hunger. Wenn Sie haben, nur eine Tasse Tee«, kam die Antwort so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.
Gut. Dann würde ich Tee kochen und mir ein Brot schmieren. Für mich allein wollte ich keine Mahlzeit aufwärmen. Ja, ich hatte auch Brot. Sogar ordentlich in einer schweren Steingutdose gelagert. Mein Blick fiel wieder auf das Foto an der Wand. Hans und Lasse beim Pflanzen eines Baumes.
Wie es Lasse wohl ging? Wo lebte er? Mira hatte nichts von ihm erwähnt. Wäre es nicht logisch gewesen, ihn zu mir zu schicken? Lebte er auch in einem anderen Land? Vielleicht in den USA oder Asien? Lasse hatte schon als kleiner Junge eine Vorliebe für die östliche Kultur. Als kleiner Junge! Oh Gott, ich benahm mich bereits wie eine alte Frau, die in ihren Erinnerungen schwelgte. Aber wieso hatte ich so wenige Bilder von meinem Leben im Gedächtnis? Im Grunde gar keine. Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein.
Hör auf! Hier und jetzt, in dieser verfahrenen Situation, musste ich mich, ob ich wollte oder nicht, mit der Zeitebene anfreunden. Sonst würde mein Plan nicht funktionieren.
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