Hab keine Angst, mein Maedchen
sie mich: »Michelle, wie schön, dass du anrufst.«
»Ja,« entgegnete ich unbeholfen. »Hallo, Lilly.«
Und was nun? Mein Kopfinhalt schien plötzlich aus einem Vakuum zu bestehen. Dabei hatte ich gerade noch den Handlungsverlauf so klar vor Augen gehabt. Lilly anrufen. Ihr Magdalenes Geschichte erzählen und einen Weg finden, um diesen Mistkerl dingfest zu machen. Ganz einfach. Aber jetzt kam ich mir wie ein kleines Mädchen vor, das seine Zaubertante anruft: ›Liebe Tante Lilly, ich hätte da ein Problem. Es läuft ein Mörder frei herum. Bring den bitte zur Strecke. Sonst kann die Frau des Opfers nicht in Ruhe weiterleben.‹
Wie sollte ich das Lilly auf die Schnelle erklären? Und überhaupt. Ich hatte mit Lilly nie mehr als nötig gesprochen. Die letzten 20 Jahre kein Wort. Und nun rief ich sie an, weil ich ihre Hilfe benötigte.
»Mach dir keine Gedanken, Michelle«, hörte ich Lillys Stimme. »Es geht hier nicht um uns beide. Aber es könnte durchaus ein Anfang für uns sein. Mich würde das sehr freuen.«
Ich errötete, obwohl sie mich nicht sehen konnte. Lilly hatte meine Abneigung immer gespürt und nun auch meine Unsicherheit, den Anfang zu finden. Kunststück, dachte ich, und der nächste Gedanke rutschte mir laut heraus: »Ich vergesse immer wieder, dass du eine Hexe bist.«
Jetzt ertönte der vertraute Sound ihres Lachens. Damit könnte sie auch Mauern zum Einsturz bringen. Die gewaltige Lautstärke war mir zum ersten Mal nicht unangenehm.
»Huhu!«, sang sie gut gelaunt. »Da schaut eine alte Hexe raus, sie lockt die Kinder ins Pfefferkuchenhaus.«
Dann wurde sie übergangslos ernst: »Ja, Michelle. Ich habe eine besondere Gabe mit auf den Weg bekommen. Aber eine Hexe, nein. Da bekommt man einen falschen Eindruck. Das klingt so, als müsste ich nur mit den Augen zwinkern, um Wünsche zu erfüllen. So viel Macht habe ich nicht.«
Ich schluckte. »Du meinst, es geht manchmal etwas schief oder klappt gar nicht?«
»Ich möchte einfach nur betonen, ich bin keine Märchenfigur und kann nicht nach Belieben herumzaubern. Ich bin Regeln unterworfen.«
»Aber nach Maßarbeit hat der Zauber bei mir nicht ausgesehen. Du hast schon einiges durcheinandergebracht«, platzte ich heraus. Die Erinnerung an das erlebte Durcheinander brachte mich nachträglich in Rage.
»Was meinst du?«, fragte Lilly freundlich.
»Na ja, du hast mich angeblich 40 Jahre weiter in die Zukunft geschickt. Aber im Grunde hast du nur mich älter gemacht, ansonsten hast du kaum etwas verändert. Zukunftsvisionen fallen bei mir anders aus. Der schlimmste Stolperstein war, dass ich mich selbst unverändert gesehen habe. Das hat mich ganz schön verwirrt und nicht gerade geholfen, herauszufinden, in welcher Zeit ich mich befinde.«
Lilly hörte sich meine Vorwürfe kommentarlos an.
»Existiert eigentlich das ›Domizil am See‹? Ich meine jetzt – aktuell?«, fiel mir als Nächstes ein.
»Ja, das steht genau an der Stelle. Du solltest wirklich mal am See spazieren gehen.«
»Und Magdalene? Sie ist anscheinend wirklich so alt und lebt in ihrer Gegenwart.«
Als Lilly nicht antwortete, fügte ich hinzu: »Magdalene habe ich im ›Domizil‹ kennengelernt.«
»Ich weiß«, sagte Lilly. »Ja, Magdalene ist wirklich 82 Jahre alt. Sie sollte dir begegnen.«
Lilly kannte Magdalene. Warum wunderte mich das immer noch?
»Und die anderen Menschen, denen ich begegnet bin. Was ist mit denen? Ohlsen zum Beispiel. Den habe ich im Doppelpack kennengelernt. Also ehrlich, und das nennst du, dich an Regeln halten?«
Jetzt lachte Lilly leise.
»Ja, das tue ich. Ich habe nur die Menschen und die Dinge in deinem Umfeld verändert, die für dich auf deiner Reise wichtig waren.«
Ich lauschte ihren Worten, und der nächste Gedanke ließ mich frieren, obwohl es in der Küche sehr warm war.
»Lilly«, fragte ich heiser. »Lilly, sag mir bitte die Wahrheit. Sieht so meine Zukunft aus? Stirbt Hans so viele Jahre vor mir? Und leben Mira und Lasse im Ausland?«
»Die Fragen kann ich dir nicht beantworten.«
»Warum nicht? Verstößt das gegen irgendeinen Kodex?«
»Nein, Michelle. Wenn ich deine Zukunft wüsste, würde ich sie dir zeigen, wenn du mich danach fragst. Aber ich weiß sie nicht.
Sieh mal, die Zukunft verändert sich ständig. Sie lässt sich nicht voraussagen. Sie formt sich jeden Tag aufs Neue. Wir sollten ihr nicht zu viel Bedeutung beimessen.«
»Aber es macht mir Angst, was ich da gesehen habe. Ich möchte nicht ganz allein
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