Hab keine Angst, mein Maedchen
ließ sich wieder auf das Sofa sinken. »Dann wäre ich auch nur ein Dauergast in einem fremden Leben. Sie würden es irgendwann bereuen. Nein, wenn ich nicht nach Hause kann, gehe ich zurück ins ›Domizil am See‹. Und Sie, Sie leben Ihr Leben.«
Ich blickte hilflos auf sie herunter. Ich war so glücklich. Ich wollte, dass es Magdalene auch wieder sein konnte.
Wir konnten Norbert seine Untat nicht nachweisen, hatte sie gesagt. Er war und blieb ein freier Mann. Daran konnten wir nichts ändern. Aber vielleicht konnte Lilly das.
Interview: männlich, 22 Jahre
Zu dem Wort ›alt‹ habe ich keine Jahreszahl im Kopf. Alt – das Wort hat für mich eine zweischneidige Bedeutung. Es kann sowohl eine Beleidigung als auch eine Auszeichnung sein.
Ich mag an alten Menschen nicht, falls man die Definition ›nicht mögen‹ dafür nehmen kann, wenn sie zu sehr an der Vergangenheit festhalten. Sie sind nur alt geworden, nicht weiser. Unbeweglich im Denken und die Jugend verachtend. Selbst wollen sie aber jung sein. Sie sind auf der einen Seite stolz auf ihr Alter und auf der anderen wollen sie es nicht ansatzweise annehmen. Sie legen die Situation immer so aus, wie es ihnen passt. Sie picken sich vom Altsein und vom Jungsein nur die Bonbons, die ihnen schmecken, heraus.
Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie nicht mehr gierig sind. Ich meine, wenn sie das Gefühl herüberbringen, nichts verpasst zu haben und nicht neidisch auf jüngere Menschen blicken.
Die alten Weisen haben sich zwar aus den kriegerischen Auseinandersetzungen herausgehalten, aber sie haben beraten. Wenn man sie um Rat gefragt hat. Weil sie über den Ereignissen standen und somit einen viel besseren Blick hatten.
Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich aus der aktuellen Sicht meine handschriftlichen Aufzeichnungen mitnehmen.
86 Jahre alt? Also ein wirklich alter Mann. Der Gedanke ist nicht ganz ohne Angst. Man braucht geistige Reife, um den Verfall, die Begrenztheit des Körpers zu akzeptieren. Die Gelassenheit möchte ich erreichen. Und ich möchte meine geistigen Kräfte ausbilden und erhalten. Wenn ich im Alter allein bin, wäre ich gerne unterwegs. Ich denke dabei an keine Urlaubsreisen, sondern unterwegs sein mit offenen Sinnen.
Kapitel 20
Ich stand schon auf dem Flur und wollte nach dem Telefon greifen, als mir bewusst wurde: Ich besaß gar keine Telefonnummer von Lilly. Woher auch? Ich hatte sie noch nie angerufen. Die fehlende Nummer war das kleinere Problem und wäre zu lösen gewesen. Aber ich kannte nicht einmal Lillys Nachnamen! Die beste und älteste Freundin meiner Mutter – und ich hatte keine Ahnung, wie sie weiter hieß! Ich hatte ihren Nachnamen mit Sicherheit schon mal gehört. Er war mir nur entfallen. Ich versuchte, mich zu erinnern. Nichts. Lilly war und blieb einfach nur Lilly. Ich ging in Gedanken das Alphabet durch. Nichts. Ich nahm das Adressbuch zur Hilfe. Vielleicht klang ein Name dem ihren ähnlich. Ich ließ die Seiten durch meine Finger gleiten. Bei dem Buchstaben L hielt ich an und starrte ungläubig auf die Eintragung. In einer wie gemalt schönen Handschrift stand dort: »Liebe Michelle. Endlich! Ich freue mich auf deinen Anruf. Herzlich deine Lilly«
Ich schluckte. Sie hatte wirklich an alles gedacht und – sie war eine Hexe. Mir fielen keine vernünftigen Argumente mehr dagegen ein. Die Ereignisse der letzten 24 Stunden waren nicht anders zu erklären. Ich musste Lillys Zauberkünste anerkennen. Die Vorstellung machte mich weiterhin nervös.
Ich schnappte Telefon und Buch und verschanzte mich in der Küche. Magdalene sollte das Gespräch auf keinen Fall mitbekommen. Sie wäre damit nicht einverstanden gewesen. Nicht in der resignierten Stimmung, in der sie sich gerade befand. Sie wollte sich ihrem Schicksal ergeben und zurück in das ›Domizil am See‹. Ich hatte sie mit Mühe überreden können, wenigstens noch eine Nacht bei mir zu bleiben. Bis dahin würde mir eine Lösung einfallen, und Magdalene hätte sich erholt. Sie würde wieder Kampfgeist entwickeln. Einfach so klein beizugeben, passte nicht zu ihr.
Ich setzte mich an den Küchentisch und begann die aufgeschriebene Nummer einzutippen. Mit jeder eingegebenen Zahl wurde ich aufgeregter. Als ich den Ton der Durchwahl vernahm, hatte ich feuchte Hände. Zum Glück brauchte ich nicht zu warten. Lilly musste neben dem Telefon gesessen haben, so schnell nahm sie den Hörer ab. Bevor ich mich melden konnte, begrüßte
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