Hab keine Angst, mein Maedchen
gestern Nacht der erwachsene Olaf. Ebenfalls ein Arzt. Zwei völlig verschiedene Zeitebenen. Wie konnte das angehen? Lilly! Eine herausragend begabte Hexe bist du wirklich nicht!
»Es geht um Magdalene Werner«, drang wieder die Stimme meines Besuchers an mein Ohr. Es geht um Magdalene, dachte ich und sah ihn alarmiert an. Er redete, durch meine Aufmerksamkeit ermutigt, hastig weiter.
»Frau Werners Neffe hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen. Es wird sogar schon im Radio nach ihr gesucht. Sie ist erst vor Kurzem Witwe geworden. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch, und man hatte sie im ›Domizil am See‹ untergebracht. Ihr Neffe macht sich deswegen die größten Vorwürfe. Er meinte, die Unterbringung wäre ein Fehler gewesen. Aber er hätte durch den Schock über den plötzlichen Tod seines Onkels nicht besser reagieren können. Frau Werner ist nicht nur altersdement. Ihr Neffe hat mir anvertraut, sie wäre schon vor dem Tod ihres Mannes auffällig gewesen und hätte eine Psychose entwickelt. Sie war aber nie in ärztlicher Behandlung. Ihr Neffe befürchtet nun, dass seine Tante in ihrem Wahn sich selbst und andere gefährden könnte.«
Ich spürte, wie in mir etwas in Bewegung kam. Auffällig. Psychose entwickelt. Gefährdung für sich selbst und andere. Ganz schlau, der Neffe. Der schreckte vor keiner Gemeinheit zurück. Und Ohlsen hatte er bereits fest im Griff, der glaubte ihm. Wie anscheinend alle anderen auch. Okay. Ich drückte das Chaos meiner eigenen Situation in den Hintergrund und schlüpfte in die vertraute Rolle der Ärztin. Der Fachärztin. Und den Vorteil gedachte ich auszuspielen.
»Ach?«, fragte ich gedehnt. »Das meint der Neffe. Und Sie, mein lieber Herr Kollege, lassen sich einfach losschicken und suchen nach ihr?«
Meine Stimme triefte vor Spott.
»Na ja, was heißt losschicken«, stotterte er empört. »Ich betreue die Bewohner im ›Domizil am See‹. Als Hausarzt. Frau Werner habe ich noch nicht persönlich kennengelernt. Ich hatte Urlaub. Aber nach Frau Werners Akteneinsicht muss ich den Eindruck des Neffen …«
»Sie haben Ihre Patientin also noch gar nicht gesehen«, fiel ich ihm ins Wort. »Interessant. Und Sie vertrauen einzig dem Protokoll eines überforderten Notarztes und der Aussage eines Verwandten. Sie wissen doch, wie subjektiv deren Eindrücke sind. Gerade nach einem Todesfall.«
»Sicher, aber …«
»Frau Werner hat mich aufgesucht, weil man sie dermaßen verunsichert hatte. Unsere Familien sind seit Langem miteinander bekannt, und ich kann Ihnen versichern, Frau Werner entwickelt keine Psychose.« Ich lächelte überlegen. »Und sie ist absolut nicht fremdaggressiv und auch nicht suizidgefährdet. Sie wohnt vorübergehend bei mir. Ich übernehme die Verantwortung.«
Jetzt hatte ich mein Pulver verschossen. Aber es schien auszureichen. Ohlsen nickte nur ergeben.
»Selbstverständlich, wenn Sie das sagen. Da wäre noch etwas«, er zögerte und wand sich wie ein Aal, bis er weiterredete. »Wir suchen eine zweite Person, ebenfalls eine alte Dame, die im ›Domizil‹ wohnt.«
Ich spürte, wie mein Puls hart, und wie ich aus Erfahrung wusste, für jeden sichtbar gegen meine Halsschlagader pochte. Es kostete mich alle Beherrschung, Ohlsen weiterhin ruhig zuzuhören.
»Die andere Dame ist 86 Jahre alt, sehr gepflegt, und sie wirkt jünger. Außerdem trägt sie so einen Kinderkoffer mit sich herum. Rosa oder rot mit weißen Punkten. Sie ist desorientiert und braucht Hilfe.«
Er räusperte sich. »Die ist nicht zufällig auch bei Ihnen? Die Dame heißt übrigens Meinberg. Komisch nicht wahr?«
»Wahnsinnig komisch. Aber ich gedenke nicht, hier ein Seniorenwohnheim zu eröffnen.«
Während ich das kühl sagte, rauschte es in meinem Kopf verdächtig. Ich musste dieses Gespräch sofort beenden, denn ich befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Direkt vor Ohlsens Füße. Das hätte gerade noch gefehlt.
»Nein, bei mir ist nur Frau Werner. Schönen Abend.«
Ohne seine Erwiderung abzuwarten, machte ich ihm die Tür vor der Nase zu. Der Flur drehte sich. Ich lehnte mich schweißgebadet gegen die Wand. Dabei horchte ich nach draußen. Ohlsen ging die Stufen runter. Eine Wagentür klappte, und ein Motor wurde gestartet. Er fuhr tatsächlich weg.
Langsam ließ der Schwindel nach. Aber der Schweiß stand mir noch immer auf der Stirn. Ich wankte ins Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen. Was ich dort sah, stürzte mich in die nächste Verwirrung. Ich hielt meine Hände
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