Hab und Gier (German Edition)
Wiedereröffnung einer großen Buchhandlung erhielt, fragte ich Judith aus einer Laune heraus, ob sie nicht mitkommen wolle. An einem Samstagnachmittag fuhren wir also nach Mannheim und plauderten mit dem Juniorchef und dessen Vater, den ich noch aus meiner Studienzeit kannte. Bei einem Glas Wein erfuhren wir alles über sein neues, innovatives Konzept und ließen uns durch die verschiedenen Abteilungen führen. Kurz vor acht verabschiedete uns der stolze Inhaber und nahm natürlich an, dass wir uns spätestens bei Ladenschluss auf den Heimweg machten. Doch ich wollte erst noch in der Sachbuchabteilung nachschauen, was sie für Reisebücher hatten.
Schon immer fand ich es wunderbar, in Buchhandlungen herumzustöbern, den Klappentext neuer Klassikerausgaben und frischer Bestseller zu lesen. Hierdurch angeregt, träumte ich von luxuriösen, aber leider nicht erschwinglichen Anschaffungen für unsere Stadtbibliothek. Während Judith und ich es uns im obersten Stockwerk in den Knautschsesseln bequem machten, wurden die Besucher der Buchhandlung per Lautsprecher aufgefordert, das Haus zu verlassen. Es war bestimmt nur eine Vorwarnung, dachte ich und griff schon nach dem nächsten Band, ohne auf die Uhr zu schauen. Doch keine zehn Minuten später sprang Judith erschrocken auf und meinte, wir müssten jetzt schleunigst aufbrechen, sonst würden wir am Ende noch eingeschlossen. Um uns herum war weder Personal noch Kundschaft zu sehen, auch die Kasse war nicht mehr besetzt. Wir eilten zum gläsernen Lift, um zum Ausgang zu kommen, drückten auf E, fuhren los und bekamen einen heillosen Schreck, als auf einmal alle Lichter ausgingen. Im selben Moment blieben wir zwischen der zweiten und ersten Etage stecken.
»Hätten wir doch besser die Rolltreppe genommen!«, sagte ich mit einem mulmigen Gefühl und hatte ein schlechtes Gewissen. Schließlich war ich es, die wie ein pflichtvergessenes Schulkind getrödelt hatte. Judith machte mir keine Vorwürfe, ja gab keinen Pieps von sich. Plötzlich tat es einen Ruck, und der Aufzug sackte einige Zentimeter ab, um erneut stehen zu bleiben und sich nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Die Tür blieb fest geschlossen. Zum Glück war es in der Kabine nicht völlig dunkel, durch die Glasscheiben drang immerhin noch ein blasser Lichtschimmer. Ich suchte und fand den Notfallknopf und hoffte, dass der Hausmeister noch in seinem Büro war und uns in Kürze befreien würde. Judith hatte ihr Handy im Auto gelassen, ich besaß damals noch kein Mobiltelefon. Immerhin hatte ich mal gelesen, wie schnell die Feuerwehr in solchen Fällen an Ort und Stelle war. Geduldig harrten wir aus, doch die Zeit verstrich, und es tat sich nichts.
Unser gemeinsames Verlies war etwa zwei Quadratmeter groß. Ich überlegte etwas besorgt, wie lange die Atemluft für uns beide ausreichen würde. Immer wieder drückte ich ohne den geringsten Erfolg auf den verdammten Knopf. Judith war am Boden zusammengesackt, zitterte am ganzen Leib und sagte kein Wort.
Meinen damaligen Zustand würde ich als diffuse Beklemmung bezeichnen, sie hingegen bekam eine hysterische Panikattacke und begann zu kreischen, dass es mir in den Ohren gellte. Ich setzte mich neben sie und begann beruhigend auf sie einzureden. Glücklicherweise wurde sie nach zehn Minuten heiser und schluchzte nur noch leise, doch dann zitterte sie plötzlich am ganzen Leib und rang nach Luft. Vergeblich versuchte ich, beruhigend auf sie einzuwirken. Mit dem Kopf in meinem Schoß lag sie da und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Hast du das schon mal gehabt?«, fragte ich. »Wie kann man dir helfen?«
Sie zuckte nur am ganzen Körper und japste weiter. »Erzähl mir eine Geschichte«, brachte sie schließlich hervor. »Ablenkung hilft. Aber vielleicht muss ich trotzdem sterben.«
»Quatsch«, sagte ich und fing sofort an zu reden – erzählte aber nicht wie Scheherezade ein Märchen nach dem anderen, sondern einfach meine eigene Geschichte. Ich sprach von meiner behüteten Kindheit an der badischen Bergstraße, vom unglücklichen Ende meiner kurzen Ehe, meinem jetzigen zurückgezogenen Leben und den kleinen Freuden des Alltags. Ja, ich sprudelte auf einmal alles heraus, was ich bisher keinem Menschen anvertraut hatte. Es war fast so, als läge ich auf der Couch eines Psychoanalytikers. Judith atmete allmählich ruhiger, aber sobald ich stockte, flüsterte sie: »Weiter!«
Nach etwa zwei Stunden ging es ihr tatsächlich besser. Stockend
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