Habgier: Roman (German Edition)
den Eingang im Blick, und als der junge Mann über die Schwelle trat, sah Marge auf die Uhr. Er kam fünf Minuten zu früh – der Junge würde es weit bringen. Marge stand auf, winkte ihm zu, und Rusty Delgado winkte zurück. Er hatte eine Khakihose an, ein blaues Baumwollhemd und ein schlecht sitzendes zweireihiges Sakko, das viel zu lang für seine klein geratene, gedrungene Figur war. Sie schüttelten sich zur Begrüßung die Hände, und dann reichte Marge ihm einen Fünfdollarschein. »Kein Schmiergeld, nur eine Einladung für ein giftiges Getränk.«
»Ich dachte immer, Kaffee in Maßen sei gesund.«
»Der Kaffee ist unschuldig, ich meine das ganze andere Zeug, was sie hier reinrühren.«
Delgado lächelte. »Bin gleich wieder da.«
Marge lehnte sich zurück. Sie hatte erfahren, dass Tricia Woodard immer noch Delgados Chefin war, aber da Tricia sich nie die Mühe gemacht hatte, zurückzurufen und über West Air zu reden, sah Marge keinen Grund, warum sie jetzt mit ihr reden sollte. Delgado seinerseits hatte sich sehr hilfsbereit gezeigt, und da war es sinnvoller, mit einem bekannten Untergebenen statt mit einer unbekannten Chefin zu sprechen. Delgado kehrte mit einem großen Becher voller schaumigem Zeugs zurück, setzte sich und starrte sie aus neugierigen blauen Augen an.
»Ich habe eine gute Story für Sie, die Sie Ihrer Chefin schmackhaft machen können«, sagte Marge.
»Betrügereien bei West Air?«
»Betrug vielleicht, aber es kommt noch besser: Mord.«
»Die vermisste Stewardess?« Rusty zog sofort sein Notizbuch hervor, doch Marge legte ihre Hand darüber.
»Hören Sie mir erst zu, dann machen Sie sich Notizen. Und vorab, Rusty: Ich bin kein Versicherungsagent.«
»Sie ermitteln verdeckt.«
»Nein, ich bin Polizistin in Zivil, arbeite aber hauptsächlich für die Mordkommission. Am Anfang wollten wir nur einen Nachweis haben, dass Roseanne Dresden bei dem Absturz ums Leben kam. Dann wurde die ganze Sache immer komplizierter. Wir haben eine andere Tote an der Unglücksstelle gefunden.« Marge fasste die Fakten so knapp wie möglich zusammen. Am Ende ihres Vortrags zog sie die Bilder von Jane Doe aus ihrer Handtasche und breitete sie vor Delgado auf dem Tisch aus.
»Dies ist das Ergebnis der forensischen Gesichtsrekonstrukteurin für unsere nicht identifizierte Leiche, die dreißig Jahre lang unter dem Apartmentkomplex verwest ist. Wir haben ewig gebraucht, um eine verwendbare Kopie des Schädels zu bekommen, denn der echte war in einem desolaten Zustand. Wie wir die Replik haben herstellen lassen, damit wir sie vor Gericht nutzen können, wäre einen eigenen Artikel wert.«
»Warum gehen Sie davon aus, dass sie vor dreißig Jahren starb?«
»Wir haben die Jacke, die sie trug, datiert.« Marge zeigte auf eins der Fotos. »Das hier ist der Farrah-Fawcett-Look, aber wie Sie sehen, haben wir noch andere.«
»Ich habe mal Fotos meiner Tanten gesehen... die trugen genau die gleiche Frisur. Unglaublich, dass so ein spießiges weißes Girl in den Latina-Markt eindringen konnte.«
»Ruhm übertrumpft alles.« Marge nippte an ihrem Kaffee. »Rusty, jemand ist hier mit einem Mord davongekommen. Wir brauchen die Unterstützung der Öffentlichkeit, und Sie sind die ideale Person dafür, dass sich das herumspricht.«
»Was ist mit der Stewardess passiert?«
»Roseanne Dresden gilt offiziell immer noch als vermisst.«
»Und Sie glauben nicht, dass diese Frau Roseanne sein könnte?«
»Nein. Die Wiedergabe des Gesichts durch die Rekonstrukteurin ähnelt Roseanne überhaupt nicht. Viel wichtiger ist aber, dass ihr Zahnschema nicht passt.« Sie beugte sich nach vorne und sah Delgado ernst an. »Ihre Zeitung hat ziemlichen Mist gebaut, indem sie Roseanne Dresden auf die Liste der Opfer gesetzt hat. Sie waren’s nicht persönlich, aber Ihr Boss.«
»Trotzdem sind Sie sich doch immer noch nicht zu hundert Prozent sicher, dass Roseanne nicht bei dem Absturz starb.«
»Nein, keine hundert Prozent. Aber je länger wir ohne Roseannes Leiche bleiben, desto eher scheint es sich um ein Verbrechen zu handeln. Weil ihr Name auf der Liste stand, haben sich die Ermittlungen verzögert, und wir haben Tage verloren, in denen wir nach Roseanne hätten suchen können, statt die Gegend durchzupflügen.«
Delgado schwieg.
»Das alles hat nichts mit Ihnen zu tun. Sie waren sehr hilfsbereit, Rusty, und ich weiß das zu schätzen. Deshalb komme ich auch erst zu Ihnen. Zu Ihnen, Rusty, und nicht zu Ihrer Chefin.«
»Ich
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