Habiru
hörte, dass dafür niemand sterben musste. Arnek hielt die Fackel in die Höhe.
»Hier ist sie. Die Große Mutter auf ihrem Thron. Die Große Mutter ist Gebärerin und Verschlingerin gleichzeitig, und die Steine sind ein verehrungswürdiges Element der Dauer. Auch sie sind beseelt, wie alles, durch dass die Große Mutter wirkt. In ihnen ist ihre Kraft und Weisheit gebunden, stärker als in allen anderen Elementen. Die Große Mutter ist nicht nur Mutter der Welt, sondern natürlich auch die Mutter unserer älteren Brüder, der Steine.«
Arnek hielt die Fackel über eine Statuette aus Stein, das tanzende Licht des Feuers erhellte eine ziemlich füllige, gleichzeitig freundlich und grimmig dreinschauende aber eindeutig weibliche Figur. Ihre Rundungen waren überbetont, die Skulptur sah fast so aus wie die in Inannas Hütte. Doch von dem Gerede über die große Mutter verstand Sarah so gut wie nichts. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und fasste mit einer Hand an den kalten Stein. Sie zuckte bei der Berührung zusammen, als hätte sie der Schlag getroffen.
»Es ist, als ob mich eine Energie durchströmt.« stellte sie fest. Arnek erwiderte: »Das ist auch so. Du spürst die Kraft, die in allem Lebendigen und Unbelebtem wirkt. Du scheinst dafür empfänglicher zu sein als die meisten anderen. Viele spüren nur den kalten Stein. Was empfindest du?« Sarah hatte nun beide Hände auf die steinerne Figur gelegt. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist als ob alles mögliche gleichzeitig fühle. Angst. Traurigkeit. Aber auch Geborgenheit. Hoffnung. Liebe.«
In diesem Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen und sie sackte zusammen.
Arnek konnte sie gerade noch auffangen.
Sarah lag auf ihrem Rücken und spürte Kälte ihren Rücken entlang kriechen. Sie schlug die Augen auf und blickte an die Decke der Matu-Hütte. Der Lichtschein der Fackel erzeugte skurrile Muster. »Was ist passiert?« Schena antworte: »Du bist ohnmächtig geworden, als du die Große Mutter berührtest. Arnek hat dich gerade noch auffangen können.«
Sarah fühlte sich wie gerädert. »Wie lange war ich bewusstlos?«
»Nur ein paar Minuten. Wir haben gerade überlegt, ob wir dich in die warme Sonne bringen sollten.«
»Oh ja, bitte, mir ist kalt und ich möchte hier raus.«
Arnek stützte Sarah beim Verlassen der Hütte. Anschließend löschte er die Fackel und verstaute sie wieder im Eingangsbereich. Sarah hockte sich mit Schena ein paar Meter abseits der Hütte in die Sonne. Nach ein paar Augenblicken im warmen Sonnenlicht fühlte sich Sarah gleich wieder besser.
Arnek kam auf sie zu: »Das war etwas viel für dich. Ich hätte dich vor dem Stein der Großen Mutter warnen sollen. Für sensible Menschen ist viel zu viel Kraft in ihm gebunden. Ich hätte nicht gedacht, dass du zu dem Kreis der Empfänger gehörst.«
Sarah dachte nach: Ich gehöre zum Kreis der Empfänger? Einerseits kann ich das kaum glauben ... andererseits würde das erklären, warum ich die Umgebung so intensiv wahrnehme. Sarah drehte den Kopf zu Arnek und blickte ihm in die Augen. »Dich trifft keine Schuld. Es war eine großartige Erfahrung - und außerdem ist mir, als ob es so sein sollte.«
Arnek schien erleichtert - das fand sie erheiternd, denn schließlich war er aus dieser Welt, wesentlich älter und weiser als sie - und dennoch schien es ihn zu beruhigen, dass sie ihm dies gesagt hatte.
»Danke. Du bist zwar erst seit gestern hier, benimmst dich aber schon so ehrwürdig wie eine erfahrene Sippenmutter. Dein Blut muss wahrhaftig von hier sein.«
Sarah wurde leicht rot im Gesicht, sie war etwas verlegen wegen Arneks freundlicher Worte.
Und auch Schena schien sie nun mit ganz anderen Augen zu sehen. Sie sah sie nicht mehr als ein fremdes Mädchen an, welches nichts von dieser Welt verstand. Es war ihr vielmehr, als ob Schena sie nun ehrfürchtig und mit Respekt mit ihren dunklen Augen ansah, als sei sie eine der Ihrigen. Irgendetwas war mit ihr passiert, als sie die Figur berührte. Es war als ob sie eine Erfahrung gemacht hatte, die sie nicht in Worte fassen konnte.
»Nehmt bitte einen Schluck Wasser aus dem Trinkschlauch und lasst uns bald weitergehen. Bis nach Eridu ist es noch lang.«
Ein paar Minuten später hatten sie ihren Marsch in der alten Formation fortgesetzt.
Sarah blickte ein letztes Mal zurück auf die Matu-Hütte. Jetzt erinnerte sie sich auch, wo sie etwas ähnliches schon mal gesehen hatte. Auf einem Tagesausflug
in die Lüneburger
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