Hacken
für die Ohren, für die Konzentration und Fehmis Reiseerzählungen. Voller Fachkenntnis kommentiert Jutta jeden Song der
Spex- CD
, die gerade im Schubfach des Autoradios läuft. Nach einer Odyssee durch die Hütten, Häuser und Wohnungen im Braunschweiger Land hatte sie Mitte der 1980er- Jahre dieses heruntergekommene Juwel gefunden in Lucklum, etwa 20 Kilometer östlich von Braunschweig. Schon das Haus ist ein Hit. Zweistöckig mit Dachgeschoss, graue Sachlichkeit mit Fensterornamenten in vornehmer Zurückhaltung. Die Zierde der Lucklumer Skyline. Dass dieses Gebäude bis heute als Hospiz bezeichnet wird, liegt in der Geschichte des Hauses begründet. Im ersten Weltkrieg diente das Haus an der Hauptstraße als Kranken- und Sterbelager. Die Lucklumer wissen ihre Geistergeschichten davon zu erzählen. Selbst harte Rationalisten erlebten hier unheimliche Begegnungen.
Diese Gegend gefällt mir schon auf der von Maximilian Hecker (»Ist er nicht süß?«, Jutta) und The White Birch beschallten Fahrt ins Dorf. Ab und an ein Ort, dazwischen Hügel und Felder und Höhenzüge und in der Ferne der Harz. Entlang der Dorfstraße gluckst der Bach. Im Zentrum auf dem Rittergut die Dorfkneipe Wegwarte. An Wochenenden legen hier die Wochenend-Touristen aus Berlin und Kassel eine Pause ein, das hat mir Fehmiwährend der Zugfahrt verraten. Sie machen sich auf den Weg in das Reitlingstal oberhalb von Lucklum: ein lichter Bogen, aus Pferdekoppeln geschwungen. Noch wäre es eine Übertreibung zu behaupten, schon der erste Besuch im Dorf habe die Weichen gestellt. Die Gespräche mit Fehmi kreisen weiterhin um die Ostsee, möchten wir in eine Stadt oder in ruhige Gegenden, in den Nordosten Hamburgs oder in die Wismarer Gegend, darum geht es wochenlang. Ohne Pause, ohne Ende reden wird darüber. Zwei Jahre lang bleibt es beim Reden. Bis Fehmi eines Tages nach Hause kommt. »Irgendetwas stimmt nicht«. Und da der Schwangerschaftstest positiv ausfällt und uns überrascht und die Frauenärztin die Schwangerschaft bestätigt, erfüllt sich die Prophezeiung der Vogelkinder: Wir kriegen ein Kind.
Das Uhrwerk des Alltags bleibt kurz stehen, um sich eine Pause zu gönnen. Atemholen, schließlich geht das Rattern los. Das ganze Leben von vorne denken und zu fassen versuchen, das beginnt nicht erst mit der Geburt des ersten Kindes. Geburtshaussuche, Schwangerschaftskurse, soll das Kind Fleisch essen, welche Impfungen soll es einmal erhalten, diese Fragen stürzen sich ins Gedränge. Wie soll das Kind aufwachsen? So ganz ohne einen Bezug zum tatsächlichen Ort würden wir an der See landen, wie ein Vater-Mutter-Kind-Ufo aus dem Nichts auftauchen, das wäre der Haken an der Sache, ein aufgesetzter Move. So reden wir immer öfter über das Land, in dem Fehmi aufgewachsen ist. Eine von der Landwirtschaft geprägte Gegend. Dort könnte unser Kind miterleben, wo die Milch herkommtund wo das Getreide fürs Brot wächst. Für unser Freiberuflertum wäre die Gegend in Ordnung, der ICE-Bahnhof von Braunschweig ist in einer Dreiviertelstunde mit dem Bus zu erreichen. In eineinhalb bis zweieinhalb Zugstunden könnten wir von Braunschweig nach Leipzig fahren, nach Hamburg und nach Berlin.
Zudem würde uns mit Fehmis Connection ein ganzes Netzwerk von Bekannten und Freunden erwarten. Die Zeit der Schwangerschaft lässt bereits erahnen, das würde uns eine Hilfe bedeuten. Neugierde, Interesse, ja Fürsorge würde man uns dort bieten. Für Fehmi war der Weggang nach Berlin einen Ortswechsel gewesen. Nicht aber, wie für mich, die Suche nach dem, was es jenseits der Familie geben könnte. Fehmi war bereits groß geworden inmitten einer Gemeinschaft aus Freaks. Viele von ihnen legten mit den Jahren ihr Freaksein ab, manche komplett, manche eher äußerlich. Einige von ihnen mochte ich von Beginn an. Andere sind mir bis heute gleichgültig. Und manche sind mir sogar richtig ans Herz gewachsen. So, wie es bei Normalofamilien eben auch zugeht.
ANKUNFT IN EVESSEN
Einen Plan verfolge ich nicht. Nur Motive führen zu der Entscheidung. Fehmi und ich ziehen nach Lucklum. Jetzt, in diesem Moment der Technikgeschichte, ist die Zeit da. Obwohl ich abhängigbin von einem sehr speziellen Wissen über ganz spezifische Musikstile und -entwicklungen, Zugang brauche zu bisher in den Großstädten erfundenen, geschaffenen, und besprochenen Daten, eröffnet das Internet nun die Möglichkeit, unabhängig zu sein vom konkreten Ort, an dem ich lebe. Meine Bewegung hin
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