Hacken
zum Land hat nichts zu tun mit einer Zivilisationsverdrossenheit oder gar mit einem »Aussteigen«, wie es zwanzig Jahre zuvor noch der scharfe Pop-Analyst Helmut Salzinger getan hatte. Der Autor der
Zeit
und der Musikzeitschrift
Sounds
zog sich zu Beginn der 1980er-Jahre auf einen Hof an der Elbmündung zurück, begann, Schafe zu hüten und sich zunehmend kulturpessimistisch zu äußern. Ich will mich nicht zurückziehen von der Musik, suche ja einen neuen Blick auf sie, und das Web kann mir dabei von Nutzen sein.
Innerhalb der ersten Jahre in diesem Jahrtausend hat sich das Netz zu einem selbstverständlichen Medium weiterentwickelt. Eine eigene Wirklichkeit hat dieses Medium bereits ausgebildet. Die großen Player des ersten Hypes, Amazon etwa, erst Bücher-Shop, dann Warenhaus, sind längst weltbekannte Marken. Jede halbwegs bekannte Band verfügt nun über eine digitale Niederlassung im World Wide Web. Dazu kommt ein neuer Modus, das Soziale Web. In den Jahren nach Napster hat MySpace den Austausch zwischen Musikern und Produzentinnen und dem Musikpublikum auf eine Netzwerk-Ebene gehievt. Hier entsteht das Web 2.0. Bald lässt es Geld zirkulieren. Creative Commons reagieren aufdie neuen Urheberrechte, die hier gefragt sind; Wikipedia sammelt Wissen.
Pulp, die exzentrische Band aus Sheffield, besingt das »Pop Life« in einem ihrer Lieder. Es sollte inzwischen auf dem Land möglich sein, dieses Leben in Pop, wie ich es führe. Nicht mehr die Stadt, sondern das Internet ist jetzt unverzichtbar für dieses Pop Life. Ein weiteres Motiv für den Gang aufs Land liegt in meiner eigenen Geschichte. Ich bin ein Landwirtschaftsanalphabet. Aufgewachsen in einer Industrieregion, weiß ich nicht, was die Landwirte den ganzen Tag lang mit ihren Traktoren auf den Feldern machen. Ich weiß noch nicht einmal, wann Ziegen zur Welt kommen oder worin sich Hafer von Weizen unterscheidet. Dabei gehört solches Wissen doch zu den Grundlagen des Lebens überhaupt. Ich möchte das wissen, unbedingt! Die Neugierde lässt mich alle Zweifel beiseite schieben, der Umzug könnte meine Auftragslage verschlechtern, so fernab der Metropolen. Ich werde ganz auf das Autorsein setzen müssen, das Redigieren werden andere erledigen, dessen bin ich mir in diesem Moment bewusst. Ich werde schreiben, nur schreiben, über Musik und über Mode, Theater, Literatur. Und dabei eine total fremde Art zu leben kennen lernen, das Leben in einer Landwirtschaftsregion.
Ich bin also vorbereitet, als mitten in die erstaunten Nachfragen aus Berliner Zirkeln hinein das Telefon klingelt. Jutta ist dran, Fehmis Mutter. »In Evessen steht eine Wohnung frei.« Evessenliegt einige Kilometer östlich von Lucklum. Während meines Besuchs dort lief ich durch das Dorf, das es mir angetan hatte wegen seines alten Kerns in einer Mulde und der Obstplantagen, die sich den Südhang des Elms hinab erstrecken. Von ganz oben große Aussicht über das Land. Fehmi, die Ortskundige, bricht sofort auf. Wir einigen uns mit dem Vermieter.
»Sie tun es wirklich, sie tun es wirklich«, beginnt der Chor zu flüstern in der alten Stadt. In Momenten bricht sich auch in mir dieses Flüstern Bahn: »Wir tun es wirklich.« Es sollte schnell übertönt werden von den Geschehnissen am neuen Ort, bis es ganz leise wurde wie ein Grundrauschen. Im April des Jahres 2005 kommt unsere Tochter Mascha zur Welt.
Fünf Monate später tun wir es.
AUF AUSDAUERJAGD
Was vom Jagen übrig blieb: Das Laufen ist die Fortsetzung der Suche nach Fleisch. Bis heute existieren – wenn auch wenige – Stämme, etwa in der Kalahari-Wüste in Afrika, die ohne Waffe jagen. Ist doch der Körper des Menschen so gebaut, dass er in einem Wettlauf über mehrere Stunden einer Antilope überlegen ist.
Der Vorteil: das Schwitzen als Temperaturregulierung. Weite Strecken laufe ich, seit ich acht Jahre alt bin und sich meine Eltern vom »Trimm dich fit!«-Trend mit diesem lustigen Männchen als Logo anstecken ließen. Wenn sie sich mit Freunden zum Laufen verabredeten, spielte ich derweil auf dem Sportplatz der DJK Bildstock verstecken. Blieben die Kinder zuhause, dann lief ich mit den Erwachsenen einfach mit. Sieben Kilometer im Dauerlauftempo eines Freizeitläufers sind für Kinder kein Problem, und außerdem spielte ich bereits im Alter von vier Jahren Fußball im Verein. Mit 18 trainierte ich sogar fünfmal die Woche für die Skilanglaufrennen des Saarländischen Skiverbands.
In Berlin
Weitere Kostenlose Bücher