Hacken
Kind!«, so singt nun der Chor in einem Ton, halb spöttisch, halb wohlmeinend. Fehmi erschafft als Teil der großen Kunstfamilie ihre Bilder, und auch ich bin in die Stadt hineingewachsen. Der Alltag erscheint dermaßen unverrückbar, Schreiben, Einladen, Auflegen, Ausstellen, dass nun auch Fehmi den Wunsch hegt, etwas ganz Neues zu erleben. An ein Kind denken wir dabei gar nicht, zumindest noch nicht. Es geht zunächst um diesen Drall: Weg aus dieser Stadt. Vielleicht an die Ostsee. Freunde in Hamburg haben wir beide, und auch nach Berlin ist es nicht weit von der See.
LUCKLUM
Es knattern Formationen von Motorrädern an diesem Haus vorbei, Traktoren wiggeln und waggeln. Es riecht nach Dieselöl, Rosen und Weizen. In den Monaten des Jahres 2004, als Fehmi und ich uns fragen, wohin unsere Stadtflucht führen soll, sitze ich zum ersten Mal im Wohnzimmer ihrer Eltern. Es ist ein Sommernachmittag, Wolken ziehen über das Lucklumer Land, im Garten blühen Stauden voller Bommel. Rosen, deren Kernen in der Blütenmitte anzusehen ist, dass sie Cousinen von Hagebutten sind. Wenn man es weiß. Ich weiß es noch nicht. Ich werde es wissen. Fehmi erkundet die neuesten Gewächse im Garten, ich bin alleinin diesem Jugendstilgebäude, einer ehemaligen Schule. Wie viel Platz hier die Teilchen haben zu schweben, sich auszubreiten. Ich nehme den Geruch wahr, dieses Spitze im Sauerstoff, Tierdung in der Ferne, die Gewächse im Garten.
Vom Wohnzimmer aus geht der Blick über die Beete und Bäume hinweg. Aus der Erde schießen Mohn und Himbeeren und explodieren außerdem die Farben Maigrün, Gelbgrün, Reingrün und Leuchtgrün. All das Wachsen, all diese irren Stoffwechselabläufe sirren. Hummeln und Wespen rasen über das Grün, die Luft bebt vor Schnaken und Weißkohlfliegen. Eine Buchsbaumhecke umgrenzt die Beete, dahinter beginnt die zweite Gartenhälfte. Von Exzentrik gezeichnet und willentlich halbwild erstreckt er sich bis zu der Straße, die das Dorf mit dem Elm verbindet, dem nieders. Höhenz. mit drei Buchstaben. Das Cornwall’sche an jenem Eindruck wird noch verstärkt von der alten Mauer aus Muschelkalk. Am Nordende des Gartens trifft sie auf eine drei Meter hohe Buchsbaumhecke. Sie gehört zum alten Gut des Deutschritterordens, das Lucklum seit dem Mittelalter geprägt hat, und grenzt an die knorrigen Obstbäume, Äpfel, Pflaumen, Kirschen des Hauses von Fehmis Eltern.
Mein Blick greift über dieses Bild hinaus. Im Nordwesten liegt eine Mulde, hinter ihr fließen die Felder einen Hügel hinauf. Einige hundert Meter weiter oben enden sie, und der Wald beginnt. So geht also der Blick aus dem Wohnzimmer hinaus in eine Welt, die sichkrasser nicht unterscheiden könnte von meiner Fenstersicht auf die ollen Fahrräder im Neuköllner Hinterhof. Alleine hier zu sitzen bedeutet schon, zu einer Spezialwelt zu gehören. Sehr spezial.
Diese Überraschung gelingt also, ich weiß nur nicht genau, ob sie Fehmi gelingt oder Lucklum. Oder mir, der sich so hinreißen lässt von der Erfahrung. Ahnen konnte ich das nicht. Diese Gegend war immer schon ein blinder Fleck für mich; mit einem Redakteur aus Wolfenbüttel habe ich zusammengearbeitet, ohne zu wissen, was Wolfenbüttel ist; Braunschweig diente hier und da schon mal als Zielscheibe des Spotts, vor allem jener, die von dort kommen und in Städten wie Hamburg oder Berlin gelandet sind. Vor kurzem erst sind Fehmi und ich zusammengezogen. Nun stellt Fehmi in Kassel aus, und ich nehme die Gelegenheit wahr, zur Ausstellung den DJ zu spielen. Ein Halt in Braunschweig auf dem Rückweg aus Hessen bietet sich an. Einer der ersten Kommentare, die ich von Fehmis Mutter am Hauptbahnhof vernehme, lautet ungefähr: »Der sieht ja so normal aus!« Jutta, so heißt die Mutter, dunkle Haare, rauchige Stimme, meint mich damit. Ich höre es deutlich. »Das sagt sie bei jedem!« beschwichtigt mich Fehmi auf der Stelle, zuckt die Schultern, lächelt. Geboren um 1950 herum, pflegte Jutta sich, wie es typisch war für diese Alterskohorte, stets deutlich von ihren Eltern zu unterscheiden. Außen und innen. Die Art zu reden, die Art sich zu kleiden, die Art, den Körper im Raum flattern zu lassen, statt gerade zu stehen, all das setzte auf Unterscheidung. Jutta selbst gestaltete die Zeit der Hippies aktivmit, später dann wurde sie Teil der großen Bienenschwärme Punk und New Wave.
Auf unserer Fahrt von Braunschweig nach Lucklum läuft Musik in einer Lautstärke, die gut ist, nur nicht
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