Hacken
schwitzte ich lieber nachts. In Evessen indes hat sich mein Rhythmus in sein Gegenteil verkehrt, statt morgens um halb sieben nach Hause zu kommen, stehe ich morgens um halb sieben auf. Also schwitze ich wieder tagsüber. Vier, fünf Läufe die Woche, Ortsverschiebungen, Elm-Erkundungen, so ein Pforte-der-Wahrnehmung-Ding bedeutet das Laufen. In
Born To Run,
dem Standardwerk über
das Laufen, erwähnt Christopher McDougall eine Sekte in den USA, deren Anhänger ihr Leben ausschließlich Ultra-Läufen und kollektiven Sex-Praktiken widmen. Back to the basics halt. Fremd ist mir der Gedanke nicht.
Während ich Fichtenpflanzungen durchquere und ausgewachsene Buchen, beginnt der ganze Körper, die Welt da draußen wahrzunehmen. Während der langen Läufe stellt sich diese Verschiebung in erhöhtem Maße ein. Nach einer Stunde, nach neunzig Minuten verändert sich etwas. Diesem Boden, den ich jetzt in diesem Moment mit meinen Füßen berühre, bleibe ich nicht länger verhaftet.
Auf halber Strecke passiere ich das Restaurant Im Reitlingstal. In einer Mulde etwas unterhalb der Gaststätte beginnt der Anstieg zu den Ruinen der Krimmelsburg. Diesen Berg nenne ich voller Liebe und Respekt Schinderhannes. Denn hier muss ich mich quälen, wenn mein Geist noch nicht vom Flow mitgenommen worden ist. Doch während der meisten Läufe fühle ich mich da schon leicht, ich bin ein Kind des Glücks in diesen Stunden, ich laufe, sonst nichts.
Von der Krimmelsburg geht es einen langgezogenen Forstweg hinunter nach Erkerode. Der Blick von oben wird von der Schneise dieser Route gelenkt. Links Buchen, rechts Buchen, der Blick gleitet den Weg hinab und über Erkerode hinweg, weit hinaus über Salzgitter. In der Ferne hinter der Stahlstadt steigen Hügel auf. Der Harz biegt meinen Blick nach oben. Es ist früher Abend, halb sieben an einem
Julitag, an dem das Thermometer locker über die 30-Grad-Grenze gestiegen ist. Links gibt sich ein Halbmond am Himmel zu erkennen, rechts färbt sich die Sonne. Von unten her strecken sich mir die Berge entgegen, wie eine bewachsene Skateboard-Anlage liegt die Gegend vor mir, ich laufe die Gaia-Rampe hinab. Und los! Allmählich schlägt das lockere Laufen in Beschwingtheit um, mein linker Zeh tanzt mit den Wesenheiten der Himbeerblüten, mein rechtes Auge synchronisiert sich mit den Geistern verstorbener Igel.
Das Ende des Abstiegs müsste ich doch längst erreicht haben. Da bemerke ich, dass sich die beiden Enden meiner Rampe, dass sich Oben und Unten aufeinander zu bewegt haben. Jetzt schließen sie ihren Aufwölbungsprozess ab. Ich laufe, äh tanze von nun an also in einer Kugel. Ich laufe sie hoch, über die Klassizismen Wolfenbüttels und die harten Kanten Salzgitters hinauf in Richtung Harz, hier Seesen, Achtermannshöhe, Wurmberg, ach, haha, Brocken, Heinrichshöhe, und wieder hinab über Quedlinburg und Halberstadt und den Großen Fallstein. Erst kurz vor Erkerode spüre ich wieder die Krümel des Waldes unter den Füßen.
Hirn schreitet ein, es kennt den Weg, und der geht jetzt diesen ultrasteilen Abhang hinab, voller Schanzen, Wurzeln und Bachrinnen. Und das Schwitzen, das geht einfach weiter.
BABY UND MÜHSAL
»Kind frisst Hirn« lautet der Titel einer Collage. Die Künstlerin lebt nun nicht mehr in Berlin. Zwei Freelancer in anderen Umständen, das ist keine Billy-Wilder-Komödie, sondern bedeutet lange Tage, lange Nächte im Septemberdunst von Evessen. Ganz langsam, so wie man einen Kinderwagen schiebt, wenn das Kind gerade dabei ist, einzuschlafen, so lerne ich das Dorf kennen. Die Karre schiebe ich durch die Hauptstraße und die Dorfstraße, vorbei an Muschelkalkhäusern und Fachwerk, an der großen Gärtnerei und der Biobäckerei. Hoch zum Elm führt ein Feldweg durch die Obstplantagen, langsam lerne ich ihre Namen wie neue Vokabeln, Halbhuber, Deuse, Schimmelpfennig. Wo sie enden, oben am Steinbruch, da wird es steil und anstrengend.
Durch die digitale Wolke halte ich Kontakt zur alten Welt. Zunächst fahre ich jeden Morgen nach Lucklum, den Ort, an dem das Internet zu mir kommt. Die Provider machen Scherereien. Drei Monate wird es dauern, bis ich angeschlossen bin in Evessen. Am Evessener Friedhof hoch, mit dem Fahrrad oder der Kinderkarre, vom Hügel aus runter nach Erkerode und dem Bachlauf der Wabe entlang bis zum Hospiz am Dorfeingang. Drei Monate! Widerwärtiges Business, Machtkampf der Internet-Giganten. Eine Oligarchie ist da entstanden. Aus dem
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