Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
schnell noch besonders langsam, sondern zielstrebig und ohne zu stoppen, als wüsste die Brock längst, wo sie sich versteckt hielt. Schließlich verstummten die Schritte vor der Tür zum Badezimmer. Saskia atmete nicht mehr. Die Klinke wurde heruntergedrückt, langsam schwang die Tür nach innen. Eine Hand patschte auf den Lichtschalter, der Raum wurde in helles Licht getaucht. Der metallen schimmernde Lauf des Gewehrs schob sich in den Raum, gefolgt von der unglaublich massigen Ellie Brock. Sie schien das kleine Badezimmer völlig auszufüllen,
verdrängte sogar die Luft. So wie Saskia es sich erhofft hatte, ging sie schnurstracks auf den Wäschekorb zu und richtete das Gewehr darauf.
»Komm raus, Flittchen«, sagte sie.
Zuerst hatte Saskia aus dem Fenster springen wollen, doch genau darunter befand sich ein flacher Stapel aus gehacktem Brennholz. Sie hätte sich weiß Gott was gebrochen, wenn sie darauf gelandet wäre. Bevor sie in den Wäschekorb steigen wollte, hatte sie nach einem schnellen Blick durch den Raum begriffen, dass Ellie Brock dort zuerst nachsehen würde. Also hatte sie sich hinter die Tür gestellt. Das gute, altmodische Versteck hinter der Tür, das schon in ihrer Kindheit funktioniert hatte.
»Komm raus, oder ich schieße dich in Stücke!«, schrie Ellie Brock. Ihre Stimme klang hysterisch.
Saskia beobachtete, wie die fette Frau den langen, unhandlichen Lauf des Gewehrs gegen den Korb drückte, um damit den Deckel zu öffnen.
Jetzt oder nie!
Sie sprang hinter der Tür hervor. Ellie Brock spürte es sofort. Doch ehe sie mit dem langen Gewehr herumgeschwenkt war, war Saskia zur Tür hinaus und stürmte auf die Treppe zu. Hinter ihr gellte ein Schrei, der ihr in Mark und Bein fuhr. Noch nie hatte sie eine Stimme gehört, in der so viel Wut und Hass mitschwang.
Saskia rannte. Die Treppe hinunter. Mehrere Stufen auf einmal überwindend. Unten prallte sie aus vollem Lauf gegen die Wand. Schmerz schoss ihr durch den Brustkorb und in die verletzte Hand. Sie sah sich um. Sebastian lag vor der Tür zur Küche. Regungslos, die Augen ge schlossen. Sie lief zu ihm hinüber, ging neben ihm in die Knie und streichelte sein Gesicht. Blut war aus einer Platzwunde
am Kopf über die linke Seite gelaufen und angetrocknet.
»Sebastian …«, flüsterte sie, »Sebastian, kannst du mich hören? Sebastian?«
Oben polterten schwere Schritte über den Flur. Sie kam! Keine Zeit mehr, sich um Sebastian zu kümmern, keine Zeit, ins Bad zu laufen und das Handy zu holen. Saskia stürzte auf den nächstgelegenen Raum zu, betrat ihn und schloss leise die Tür. Es war Edgars Büro. Im Dunkeln tastete sie sich vorwärts, stieß gegen den Schreibtisch, fühlte nach dem Telefon, von dem sie wusste, dass es darauf stand, packte das schnurlose Handteil, verkroch sich damit in den Fußraum des Schreibtisches und tat, was sie schon längst hätte tun sollen: Sie wählte den Notruf.
Mit Wucht flog die Tür in den Raum, knallte gegen die Wand und prallte zurück. Grelles Licht flammte auf. Unwillkürlich schrie Saskia auf, rückte noch tiefer in den Fußraum und presste das Telefon gegen ihr rechtes Ohr.
Es klingelte. Einmal, zweimal …
»Polizeinotruf, was …«
»Komm da raus, du Schlampe!«
Aus dem wattigen Dunkel, das wie ein Filter wirkte, drangen Worte und Geräusche zu ihm durch. Zunächst leise, dann immer lauter, wie ein Zug, der sich aus großer Entfernung näherte. Eine sanfte Stimme wiederholte immer wieder seinen Namen.
»Sebastian … Sebastian … Sebastian …«
Er spürte eine Berührung an der Wange, sanft, zärtlich. Die Stimme, die seinen Namen sprach, und diese Berührung besaßen die Kraft, ihn aus der tiefen Bewusstlosigkeit zurückzuholen. Er spürte seine Lider flattern, spürte
Schmerz, doch noch bevor er die Kraft fand, seine Augen zu öffnen, verschwand die Hand von seiner Wange und verstummte die Stimme.
Das rechte Auge ließ sich öffnen, das linke nicht. Alles schien verschwommen, wie hinter dichtem Nebel, nur langsam kristallisierten sich Formen heraus. Zunächst war da nichts weiter als die weiße Dielendecke mit der Lampe daran. Sebastian wollte seine rechte Hand heben, um diesen harten Belag von seinem linken Auge zu entfernen, doch er konnte nicht. Wieso konnte er weder Hände noch Füße bewegen? Wo war er überhaupt, und wie war er in diese Situation gekommen? Träumte er, oder war das die Realität?
Er drehte den Kopf und spürte sofort einen stechenden Schmerz irgendwo unter
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