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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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nebeneinander die Straße hinunter.
Sebastians Sinne waren auf merkwürdige Art geschärft. Er nahm alles überdeutlich wahr. Die in den Lichtkegeln der Laternen tanzenden Insekten, das Zirpen der Grillen, die Geräusche einer entfernten Durchgangsstraße. Saskia an seiner Seite, ihren Atem, ihren Geruch. Er erzählte ihr von seinen Asthmaanfällen, die ihn schon heimsuchten, solange er denken konnte. Ungezählte Male war er als Kind bei ungezählten Ärzten gewesen, alle hatten sie nur den Kopf geschüttelt. Sich verkrampfende Bronchialäste, genetischer Defekt, vererbt, angeblich hatte sein Vater als Kind schlimme Probleme mit den Bronchien gehabt. Dabei verschwieg er ihr aber, dass er den Anfall nicht mit seinem Asthma in Verbindung brachte. Mit sich verkrampfenden Bronchialästen hatte das vorhin nichts zu tun gehabt. Irgendwas war in seinem Kopf gewesen, etwas, das dort nicht hingehörte. Hatte es je Fälle von Wahnsinn in seiner Familie gegeben? Nein, das war zu weit hergeholt. Vielleicht sollte er es einfach vergessen. In den letzten Tagen hatte er viel Stress gehabt. Stress konnte alles Mögliche verursachen!
    »Tut mir leid, dass ich unser Essen auf diese Weise beendet habe. Normalerweise bekomme ich die Anfälle nur nachts.«
    »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du kannst schließlich nichts dafür.«
    Ihre Handrücken berührten sich. Sebastian fragte sich, ob er ihre Hand nehmen sollte, beließ es aber bei der Frage.
    »Ein schöner Abend«, sagte Saskia leise.
    Ihr Kinn zum Himmel gereckt sah sie mit großen Augen hinauf. »Am Nachmittag dachte ich noch, es gibt ein Gewitter.«

    »Ja, es sah so aus. Hat sich aber verzogen.«
    Was für ein wunderschöner, romantischer Satz! Herzlichen Glückwunsch! Er suchte fieberhaft nach Worten, fand aber keine. Seine Rhetorik, während des Studiums in unzähligen Seminaren geschult, versagte hier. Der Grundlage kühler Argumente und stechender Logik entzogen, stand er da wie ein Achtklässler und fühlte sich auch so. Klein, pickelig, voller pubertärer Probleme und Unsicherheiten.
    Unvermittelt blieb Saskia stehen und sah ihn an, reckte ihr zierliches Kinn zu ihm empor, wie sie es vorher zum Himmel gereckt hatte. Ihre Augen fingen das Licht der Straßenlaternen ein.
    »Warum hast du mich im Krankenhaus besucht?«
    Die Frage überraschte ihn.
    »Ich verstehe nicht.«
    »Das war nicht selbstverständlich, und ich würde gern wissen, warum du es getan hast?«
    Ohne lange darüber nachzudenken, erzählte er ihr die Wahrheit, sprach von ihrem blutüberströmten Gesicht hinter der zerborstenen Scheibe, von seinem Gewissen, das sich nicht durch die Worte der Schwester hatte beruhigen lassen wollen. Erst während er sprach, fragte er sich, ob das die Antwort war, die sie hören wollte. Aber was spielte das für eine Rolle, er hatte keine andere. Als er endete, legte sie den Kopf schräg und sah ihn unverwandt an.
    »Du dachtest, ich wäre tot?«
    Um Worte beraubt nickte Sebastian nur. Dann trat sie schnell auf ihn zu, nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger in den seinen. So gingen sie schweigend zu ihren Autos zurück. Dort angekommen öffnete sie die Fahrertür des Audis, den sie sich von Stefanie geliehen hatte, drehte
sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die linke Wange. Sanfte Wärme glitt über sein Gesicht, ihr Haar berührte für einen kurzen Moment seine Lippen, wie das Streicheln einer Feder, die zuvor durch eine sinnliche Welt voller Düfte geschwebt war.
    »Danke … auch für den schönen Abend.«
    Sie stieg ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Lag es an der Instrumentenbeleuchtung, oder überzog eine leichte Röte ihr Gesicht?
    »Ich würde dich gern wiedersehen«, sagte Sebastian. Ein einziger Blick von unten herauf, aus diesen tiefen, dunklen Augen, ein einziger Blick und der wie in Zeitlupe ablaufende Augenaufschlag, und er war sich völlig sicher.
    »Lad mich ein, und bring mir das Reiten bei.«
    »Ich wüsste nicht, was ich lieber täte. Morgen?«
    »Musst du nicht arbeiten?«
    »Ich könnte um sechzehn Uhr Schluss machen, dann wäre ich um siebzehn Uhr auf dem Hof.«
    »Ich bin da.«
    Ein letzter Blick, dann warf er die Tür zu und sah dem Wagen nach, noch lange, nachdem er verschwunden war.
     
    Grelles Licht blendet ihn, schießt als stechender Schmerz durch seine Augen bis in den Kopf, zerplatzt dort zu Millionen Sternen, die wie Kometenhagel niedergehen, jeder einzelne mit der Leuchtkraft

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