Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
abgesprochenen Termin; Zeit genug, um die Atmosphäre des Lokals auf sich wirken zu lassen und damit vielleicht dem Flattern im Bauch Einhalt zu gebieten.
In dem Lokal wartete eine andere Welt. Direkte Beleuchtung war dem Besitzer offenbar ein Gräuel. Sanftes Licht quoll aus Ritzen, Ecken und Nischen, verlieh dem unübersichtlichen Raum ungeahnte Tiefe. Halbhohe Holzpalisaden gewährten den Wunsch nach Abgeschiedenheit, jeder Tisch befand sich in einer Nische. Die Musik, die er im Wagen draußen schon erahnt hatte, schien direkt aus den Wänden zu dringen, allerorten gleichermaßen leise und unaufdringlich.
Ein Kellner wies ihm seinen Tisch und zog sich zurück, nachdem Sebastian gesagt hatte, dass er noch auf jemanden warte. In den folgenden sechs Minuten öffnete sich viermal die Tür, jedes Mal flog sein Kopf herum und sein Magen zog sich zusammen, aber als sie dann wirklich
hereinkam, erkannte er sie erst auf den zweiten Blick. Sie sah faszinierend aus in ihrem schwarzen Hosenanzug. Ihr halblanges schwarzes Haar schimmerte wie dunkles Edelholz, ihre Haut erschien noch eine Spur dunkler als im Krankenhaus. Sie passte wie kein zweiter Gast in dieses mediterrane Flair.
Sebastian stand auf und ging ihr entgegen. Sie begrüßten sich artig mit Handschlag. Ihr Lächeln war ehrlich und offen. Überdeutlich nahm Sebastian den Duft ihres Parfums wahr, während er sie zum Tisch begleitete. Dort sahen sie sich einen Augenblick schweigend an. Auch ihre Augen waren noch dunkler, als er sie in Erinnerung hatte; zwei schwarze, unendlich tiefe Brunnen, eingerahmt von langen Wimpern und schwarzen Brauen.
Der Kellner kam erneut an den Tisch und unterbrach diesen erlesenen Augenblick, der sonst vielleicht peinlich geworden wäre. Er brachte die Speisekarten und nahm ihren Wunsch nach Rotwein auf. Nachdem er gegangen war, sprachen sie über den Unfall, und jeder Satz löste die anfängliche Verkrampftheit. Sebastians Bauch entspannte sich, seine Finger kamen zur Ruhe und ließen die Serviette los, deren Ränder mittlerweile ausgefranst waren.
Zwischendurch bestellten sie das Essen. Danach erzählte Sebastian vom Schneiderhof.
»Also kannst du reiten?«, fragte Saskia schließlich.
»Seit meinem fünften Lebensjahr. Western genauso wie den klassischen englischen Stil. Aber das ist nichts Besonderes. In zwei Tagen kann ich dir die Grundregeln beibringen.«
»Ich weiß nicht … ich bin noch nie auf einem Pferd gesessen.«
»Dann wird es allerhöchste Zeit. Das ist ein unbeschreibliches
Gefühl … An einem klaren Morgen durch die freie Landschaft zu reiten, dabei wird das Pferd zu einem Bindeglied zwischen Mensch und Natur. Wenn du das einmal erlebt hast, willst du nie mehr darauf verzichten.«
Saskia hatte ihr Kinn in die rechte Hand gestützt, sah ihn unverwandt an und hörte zu. Sebastian hätte ihr gern mehr erzählt, doch ihr Blick irritierte ihn, und er lief Gefahr, sich in ihren tiefen Augen zu verlieren.
Es war der Kellner mit dem Essen, der ihn rettete.
Die Ebenholzschale ist mit Blut und Wasser gefüllt, kalt und dunkel hängt die Lampe über dem Tisch. Abermals wird der Raum erhellt von dreizehn Kerzen, kreisförmig um die Schale aufgestellt. Ihr ruhiges Licht wirft lebendige Schatten an die Wände. Außerhalb des Kerzenscheins liegen ein Messer und der Stößel aus Ebenholz auf dem Tisch. Heute aber braucht sie noch etwas mehr. Wie eine kostbare, zerbrechliche Porzellanschale trägt sie einen Gegenstand zum Tisch und stellt ihn behutsam neben dem Messer ab. Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, vor allem in Form von Rost, da sein Versteck feucht gewesen ist, doch nach einigen Stunden liebevoller Arbeit funktioniert er nun wieder. Sie ergreift die Flügelschraube, zieht die Mechanik auf und entriegelt den Mechanismus. Es ratscht und knackt, dann erfüllen die ersten Töne des alten Kinderliedes die kleine Küche. Sie singt mit, und es füllt ihr Herz mit Freude und ihre Augen mit Tränen.
Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein. Stock und Hut stehn ihm gut, ist ganz wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr: Wünsch dir Glück, sagt ihr Blick, kehr nur bald zurück.
Während die blechernen Klänge leiser und langsamer
werden, taucht sie ihre Finger in die Flüssigkeit, schließt die Augen und beginnt, sich im Takt der Melodie zu wiegen.
Der Kerzenschein gerät in Bewegung. Etwas entweicht aus dem Kreis, stoßweise zuerst, dann gleichmäßiger, und die Flammen biegen
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