Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Straßenlaternen waren vor zehn Minuten erloschen. In keinem der Häuser dort vorn konnte sie noch Licht entdecken. Dort schlummerte die friedliche Welt der braven Bürger, heile Familien, Kinder, die bei ihren Müttern aufwachsen durften, die ihnen nicht säugend von den Brüsten gerissen wurden.
Aus einer Lade des Nachtschränkchens neben dem Bett der alten Kreiling nahm sie ein Taschentuch aus teurem, weichem Stoff und band es sich schützend vor die Nase. Ein eigentümlicher Geruch haftete dem Tuch an. Wahrscheinlich eine Mischung aus Waschpulver und Parfum. Es konnte ihr nur recht sein, vielleicht hielt es den Gestank im Keller dadurch besser ab.
Sie ging ins Erdgeschoss, öffnete die Kellertür und stieg hinab. Auf der Treppe schützte das Tuch ihre Nase vor allen anderen Gerüchen, doch kaum hatte sie einen Fuß auf den Boden gesetzt, drangen Mechthild Kreilings sterbliche Überreste in Form von Gasen durch das Tuch. Leider wusste sie nur zu genau, was Geruch letztendlich war; nämlich nichts anderes als mikroskopisch kleine Partikel des stinkenden Materials – in diesem Falle eben menschliches Fleisch.
Die Leiche befand sich im letzten Raum nahe der Außentreppe, dort, wo die Kreiling in langen Holzregalen eingemachte Kirschen, Pflaumen und ein paar vergammelte Äpfel aufbewahrte. Sie drückte die Tür auf, machte aber kein Licht. Jeder Raum hatte einen Lichtschacht, und sollte es einen unerwarteten Besucher geben, würde der sich fraglos wundern, was es mitternächtlich im Keller zu tun gab. Das dämmrige Licht der Glühbirne auf dem Flur würde reichen müssen. Der Leichnam lag mitten im Raum. Das Tuch vor ihrer Nase hatte keine Wirkung mehr. Nur noch in ihrer Wunschvorstellung blieben die winzigen Fleischpartikel darin hängen.
Sie bückte sich, griff nach den Beinen und zog kräftig daran. Das alte Fleisch gab nach, sie spürte etwas reißen, der Rest des Körpers sackte wieder zu Boden, obwohl sie beide Fußknöchel noch umklammert hielt. Einen unschlüssigen
Moment blieb sie so stehen, sah sich im Kellerraum um, dachte nach. In dem Halblicht vom Flur entdeckte sie eine mittelgroße Holzkiste. Sie ließ die Beine fallen, ging hinüber und hob den Deckel. In der Kiste war nur ein kleiner Rest Eierkohle. Die störte nicht. Sie schob die Kiste neben Mechthild Kreiling. Die alte Dame war zu Lebzeiten nicht groß gewesen und wirkte jetzt sogar noch kleiner, trotzdem würde sie nicht ohne Weiteres in die Kiste passen.
Sie hob zunächst die Unterschenkel über die Kante, packte die Leiche dann unter den Achseln, wuchtete sie mühelos hoch und ließ sie mit dem Kopf voran in die Kiste sacken. Der tote Körper verkeilte sich und blieb quasi mit einem Katzenbuckel stehen. Doch unter dem Druck ihres immensen Körpergewichts, welches sie auf die Mitte der Wirbelsäule konzentrierte, brach diese, und sie konnte die Gliedmaßen mit ein wenig Kraft in die Kiste pressen. Die rechte Beckenhälfte weigerte sich zunächst standhaft, gab dann aber einigen gezielten Fußtritten nach. Zehn Minuten, nachdem sie den Keller betreten hatte, war die Leiche in der Kiste verstaut.
Sie rang nach Luft. Das hier war schwere Arbeit, dazu noch der Gestank und das behindernde Tuch vor der Nase, kein Wunder, wenn ihr Herz raste. Sie musste raus aus dem Keller!
Also schloss sie die Außentür auf, wuchtete die Kiste vor ihren Bauch und trug sie schnaufend und keuchend hinauf. Die letzten Stufen waren eine Qual, ihre Beine zitterten, aber sie schaffte es und setzte die Kiste erst ab, nachdem sie die Treppe überwunden hatte. Der Wille zählte! Mit einem festen Willen konnte der Mensch alles schaffen!
Die Nachtluft, obgleich weder kühl noch besonders erfrischend,
war nach dem Gestank im Keller wie eine Offenbarung. Sie entfernte das Tuch von ihrem Gesicht, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein und aus, genoss die stille Freiheit um sich herum, sah Sterne zwischen den Wolken blinzeln. In ihrem Brustkorb löste sich ein tiefer Seufzer. Eines Tages würde sie, so wie Mechthild Kreiling jetzt schon, als reine Energie dort oben zwischen den Sternen existieren. Sie würde ihre nutzlose Hülle aufgeben und sich mit dem ewigen Fluss der Natur vereinigen. Seit Urzeiten war es immer der gleiche Ablauf, und nur weil die Menschen es vergessen hatten, weil sie nicht mehr daran glaubten, hatte sich die Natur nicht verändert. Alles floss auf einen bestimmten Punkt zu, nichts ging verloren, Energie änderte nur ihren Aufenthaltsort.
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